Was ist „Aufgeklärte Einsprachigkeit“?

Was ist Aufgeklärte Einsprachigkeit?
Wie kam es zu dem fatalen Irrtum, die Muttersprache auszuschließen?
Was ist richtig an der Forderung nach einsprachigem Unterricht?
Worin besteht der Grundirrtum der Einsprachigkeit?
Genügt nicht eine Einsprachigkeit mit Abstrichen, ein vernünftiger Kompromiss?
Warum hat sich die Aufgeklärte Einsprachigkeit noch nicht allgemein durchgesetzt?
Gibt es eine Grundbedingung, die erfüllt sein muss, damit wir Sprache erwerben?

Was ist Aufgeklärte Einsprachigkeit?

AE bedeutet die regelmäßige, systematische Mithilfe der Muttersprache im fremdsprachlichen Anfangsunterricht, mit dem Ziel, den Unterricht zunehmend einsprachig, d.h. in der Fremdsprache selbst zu gestalten. Die muttersprachliche Mithilfe zu Beginn wird immer stärker reduziert, je mehr die Lerner fortschreiten. Alles-in-der-Fremdsprache ist das Ziel, aber nicht der Weg. Nur wer ihre Muttersprachen mitspielen lässt, holt seine Schüler da ab, wo sie sind.

Wie kam es zu dem fatalen Irrtum, die Muttersprache auszuschließen?

Als die modernen Fremdsprachen in die Gymnasien kamen, orientierte man sich zunächst allzusehr am gewohnten altsprachlichen Unterricht. So übernahmen oft die Lateinlehrer den Französischunterricht. Da galt es in der Tat, sich von einem Vorbild zu lösen, d.h. von einem Unterricht, der sich auf das Übersetzen von klassischen Texten konzentrierte und in der Muttersprache geführt wurde. Sollte man sich etwa auf Lateinisch Guten Morgen sagen? Das wäre doch bloß Spielerei gewesen. Nicht aber Good morning, bonjour, open your books please usw. In der Folge hat man dann aber das Baby mit dem Badewasser ausgeschüttet: Die Muttersprache sollte aus dem Unterricht der modernen Sprachen verschwinden, möglichst ganz, sogar bei der Grammatik.

Was ist richtig an der Forderung nach einsprachigem Unterricht?

Richtig ist, daran zu arbeiten, (1) den typischen Unterrichtsalltag fremdsprachlich zu bewältigen: Rituale wie das Begrüßen, Routinen wie  das Bücheraufschlagen, die Sitzordnung ändern, die Aufgaben stellen, Tests ankündigen, Fehler korrigieren, loben und mahnen…(2) Dazu kommt das menschliche Miteinander, eine Atmosphäre der Freundlichkeit, das spontane, fremdsprachliche Aufgreifen besonderer Sprechanlässe: Jemand hat eine Allergie, ein anderer kommt mit Krücken in die Schule, braucht Zuspruch, trägt neuerdings eine Zahnspange und, und, und.  (3) Zentral dann die fremdsprachliche Textarbeit. Im Lateinunterricht hat man Texte übersetzt und auf Deutsch besprochen. Das sollte nun konsequent in der Fremdsprache geschehen. So sollen die Schüler ganz in die Fremdsprache eintauchen (Immersion). Schon lange sind dies Selbstverständlichkeiten eines guten kommunikativen Unterrichts der neueren Sprachen. Das entspricht unserem ersten Leitsatz: „Sprachen lernt man, indem man sie lebt“ (Butzkamm ³2012). Aber man hätte es besser funktionale Fremdsprachigkeit nennen sollen, nicht Einsprachigkeit. Denn genau diese Ziele lassen sich durch eine diskrete, wohl dosierte und gezielte Mithilfe der Muttersprache reibungsloser erreichen.

Worin besteht der Grundirrtum der Einsprachigkeit?

Übersehen wurden die Vorleistungen, die eine natürlich gewachsene Sprache für jede Fremdsprache erbringt. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit: Alles Lernen ist ein Hinzulernen. Wir können gar nicht anders, als an das anzuknüpfen, was die Muttersprache – oder eine andere, natürlich gewachsene Sprache  – angebahnt hat.  Täten es die Schüler nicht großenteils von selbst, könnten die Lehrer gleich einpacken. Statt ihn zu ignorieren, sollten die Lehrer diesen Lernprozess fördern und lenken.

Denn in der Muttersprache, mit ihr  und durch sie haben wir (1) unseren Sprechapparat ausgebaut, unsere Stimme entwickelt und artikulieren gelernt. (2) In der Muttersprache und durch sie haben wir kommunizieren gelernt, also fragen und antworten, sagen, was ist oder auch nicht ist, ablehnen, bitten, fordern, begründen, sich herausreden, schmeicheln, schimpfen usw. usw. Das alles, zudem mimisch und gestisch gestützt, können schon Vorschulkinder. Schauen wir genau hin: Sie sind wahre Künstler der Kommunikation. Darauf gilt es aufzubauen, statt sich davon abzuschneiden. (3) Ebenso haben wir die kleine Welt, unseren Alltag, und ein bisschen von der großen Welt auf den Begriff gebracht und denken gelernt. Dabei haben wir tausenderlei Dinge unterscheiden gelernt: Essen und trinken, geben und nehmen, selber tun oder lassen, Hund und Katze und, und, und. Nur weil wir schon wissen, was das Wetter ist und tut, können wir dann auch auf Chinesisch darüber reden lernen. (4) In engster Verbindung mit unserem sich entfaltendem Weltverständnis haben wir eine grammatische Grundordnung intuitiv zu erfassen gelernt und verstanden, und dass Wörter sich immer wieder neu zu neuen Sinngefügen kombinieren lassen. (5) Wir haben zum Teil schon die sekundären Fertigkeiten des Lesens und Schreibens erlernt. Sich davon abzuschneiden, ist offensichtlich absurd, ja ganz unmöglich. Ein Grundfehler. Denn dieses Geprägt- und Schon- Informiertsein, d.h. die umgreifende, in der Erstsprache heranreifende Sprachlichkeit des Menschen, ist das Fundament unserer Selbstwerdung und der größte Aktivposten des Fremdsprachenlerners. Die Muttersprache (einschließlich anderer, wie Muttersprachen erworbener Sprachen) ist darum das Instrument zur Erschließung fremder Sprachen, ihrer Bedeutungen, ihrer grammatischen Formen und Funktionen, der Dechiffrierschlüssel, der den schnellsten, den sichersten, den genauesten und vollständigsten Zugang zur Fremdsprache bildet –  bis diese sich zunehmend selbst weiterbauen kann.

Ich greife nur einen Punkt aus dieser fünffachen Mitgift der Muttersprache heraus: die grammatischen Vorleistungen. Vorschulkinder haben sich in der Muttersprache Grundlegendes erarbeitet, verstehen z.B. Zeitangaben oder was Pronomina im Satz leisten, etwa dass ich statt Wolfgang „er“ sagen kann. Sie filtern diese unscheinbaren Wörtchen umso leichter aus dem fremden Input, wenn sie so etwas schon kennen. Und so verstehen sie vieles andere, was direkt, ganz oder teilweise, in die Fremdsprache übernommen werden kann, ja muss. Ich gebe ihm“? Ja was denn, da fehlt doch was, das klingt einfach falsch. So was braucht gar nicht erklärt werden. Hier sind schon die Grundlagen gelegt. Ein Vorschulkind hat schon Hunderte von Wenn-Sätzen gehört, die ja so beliebt bei Eltern sind. Es versteht Bedingungen, kann mit ihnen umgehen, kann mit anderen darüber verhandeln, und das ist ungleich bedeutsamer fürs Lernen von if-clauses als die Tatsache, dass man Wenn-Sätze und if-clauses nicht stets eins zu eins aufeinander abbilden kann. Zumal es Sprachen gibt, die kein Wörtchen wie „wenn“ haben. Oder auch kein „ob“. Nehmen wir mit „ob“ eingeleitete sog. indirekte Fragesätze: „Ich möchte gern wissen, ob sie verheiratet ist.“ Die Chinesen drücken das so aus: Ich möchte gern wissen, sie ja-nein verheiratet ist.“ Kein Problem, wenn man es uns so in der Muttersprache erklärt. Oder nehmen wir Relativsätze. Hören Sie mal zu, wie man Bilderbücher mit den Kindern durchblättert: Wer ist das denn da, der gerade über die Straße läuft? Wo ist denn der Hund, der sich die Wurst geschnappt hat? Unzählige Relativsätze.  Wir verstehen, dass man damit etwas näher bestimmt. Dies sind nur einige Beispiele für die vielen kognitiven Vorleistungen, die sich mit der Muttersprache und an ihr entfaltet haben und in das Fremdsprachenlernen eingespeist werden müssen. Wenn die Schüler das nicht zum großen Teil schon von sich aus täten, kämen sie nicht weit. So gesehen, lernt man Sprache nur einmal im Leben. Die Schule hat die Aufgabe, Lernende dabei zu unterstützen, dieses Potenzial auszureizen statt es zu ignorieren. 

Genügt nicht eine Einsprachigkeit mit Abstrichen, ein vernünftiger Kompromiss?

Nein. Vernünftige Kompromisse, die gehören in die Politik, nicht da, wo man die Dinge wissenschaftlich hinreichend klären kann. Es ist ein Riesenunterschied, ob man etwas als Nothelfer, als letzte Instanz, zulässt, oder als Kapital ansieht, das man einsetzt und für sich arbeiten lässt. In einem Fall ist dieses etwas die Ausnahme, im anderen die Regel, und die Regel sollte es auch sein.

Selbst für eine so nah verwandte Sprache wie das Englische ist die systematische Mithilfe der Muttersprache angesagt. Ich zitiere aus der Süddeutschen Zeitung (12.7.04) über den EU in der Grundschule: „In einem sind sich alle Länder einig. Die Lehrkräfte sollen kein Wort Deutsch sprechen – auch wenn diese „Sprachbad-Methode“ manchmal stressig sei.“ Für mich ein Skandal.

Dafür liefert der Beitrag gleich ein Beispiel: „Wenn Marion K. Tiernamen an die Tafel schreibt und die Kinder Bildkarten auf den Tisch legen sollen. ‘Just put them in a row’, sagt Frau K. Sie sagt das sieben-, achtmal und zeichnet mit dem Zeigefinger dabei eine Linie in die Luft. Trotzdem verstehen nicht alle Drittklässler, was Sache ist. Sie versucht es tapfer weiter: ‚No, Christine, don’t write any numbers on your cards.’ Nur wenn das Chaos überhand nimmt, greift die Lehrerin zu einem deutschen Machtwort. Am Anfang, erzählt sie, seien die Schüler überfordert gewesen. ‚Wenn ich Englisch gesprochen habe, haben sie mich angeguckt, als hätten sie ein Gespenst gesehen’.”

Just put them in a row – das hätte man doch sehr schön vormachen können, denkt man sich, und übersieht, dass es selbst bei scheinbar einfachen Sachen viel mehr Missverstehen gibt, als unsere Lehrerweisheit sich träumen lässt. Einer erinnert sich, wie erleichtert er war, als er nach Wochen dahinter kam, dass das häufige „Be quiet“ des Lehrers nicht ein Wort war, sondern zwei, und „seid still“ hieß. Ich weiß noch, wie ein Nachbarskind nach der ersten Französischstunde zu mir kam, weil es ihr nicht in den Kopf wollte, dass „Ich heiße Christine“ auf Deutsch dreiteilig, aber auf Französisch eher vierteilig war: Je m’appelle Ch.“ Was durch eine wörtliche Übersetzung sofort geklärt wurde: „Ich mich nenne Ch.“  An Ähnliches erinnert sich eine Studentin, die verwirrt war über „Voilà Philippe“ („Da fehlt doch das „ist“). Kleinigkeiten? Nicht für die Betroffenen. Denn die Kleinigkeiten können sich summieren.

Es ist eben keine Seltenheit, dass Schülerinnen und Schüler lange im Dunkeln tappen und erst einmal mit völlig falsch Verstandenem nach Hause gehen. Warum muss aber erst das Chaos drohen? Beim ersten Anzeichen des Nichtverstehens hätte die Lehrerin – vielleicht leiser, in einem anderen Tonfall – sagen können: „Legt sie einfach in eine Reihe“, um dann lauter zu wiederholen: “Just put them in a row”. Mit dieser Sandwich-Technik wäre alles geklärt, ohne jeden Stress des Nicht-Verstehens.

Wieso tut sie nun nicht das Naheliegende? Weil ihre Ausbilder ihr ein schlechtes Gewissen eingeredet haben. Wie oft hab ich in diesem Zusammenhang von Schuldgefühlen gelesen, auch im Internet, diese Sache mit dem schlechten Gewissen! Die Muttersprache ist nur die Feuerwehr, die man  im Notfall ruft, wer aber ohne sie auskommt, ist King.  Und so handelt sie, wie das Gesetz es befiehlt, zumal ja auch noch Besuch da ist.

Dass es aber den Stress des Nicht-Verstehens gibt, und zwar nicht nur als Ausnahmefall, das haben Schülerbefragungen nachdrücklich belegt. „Das Schlimmste für lernschwache Schüler war, überhaupt nicht zu verstehen, worum es ging und was der Lehrer von ihnen wollte“, heißt es in einer Befragung von über 1000 englischen Gesamtschülern der neunten Klasse. “The feeling of being lost in language lessons was so clear. It’s sad really”. Wie blamiert, ja wie angeschmiert kommt man sich vor, wenn man selbst was nicht kapiert, andere aber wohl. Kein Wunder, dass der Englischunterricht an Hauptschulen so katastrophale Ergebnisse zeitigt (siehe Rubrik „Pädagogischer Notstand“).

Warum hat sich die Aufgeklärte Einsprachigkeit noch nicht allgemein durchgesetzt?

(1) Weil die traditionelle Einsprachigkeit zunächst einleuchtet. Denn man lernt keine fremde Sprache, indem man eine andere gebraucht. Also sollte alle Unterrichtszeit der Fremdsprache gehören. Diese platte Plausibilität überzeugt. Außerdem verharrt der Mensch gern im Gewohnten und hält am Status quo fest. Nicht so Rinvolucri. Der Lehrerausbilder und Buchautor gesteht, als Lehrer seine eigenen früheren Lernerfahrungen einfach ausgeblendet zu haben. Heute findet er das urkomisch: „Thirty years ago I was so much part of the Direct Method orthodoxy of the day that I frowned on bilingual dictionaries and one day found myself miming the word ‘although’ in an elementary class … How had I managed to exclude my real experience as a language learner from my practice as a language teacher for so many years?” Da hatte wohl eine Art Gehirnwäsche stattgefunden. Die gezielte Verwendung der Muttersprache ist neu und muss eingeübt werden. Dazu kommt: Die Schulaufsicht fürchtet den muttersprachlichen Wildwuchs. Denn ist die Muttersprache erst einmal erlaubt, mag es mancher sich bequem machen und im FU ständig Deutsch reden. Also lieber ganz verbieten…

(2) Die AE setzt sich auch deshalb nur langsam und stückweise durch, weil wir es in den Schulen hauptsächlich mit nah verwandten Fremdsprachen zu tun haben. Je „fremder“ aber eine Fremdsprache ist, je mehr Stolpersteine sie Anfängern in den Weg legt, desto wichtiger wird die Zuhilfenahme der Muttersprache, was Wortschatz, Grammatik und Texte anbetrifft. Wären Arabisch, Chinesisch oder irgendeine Stammessprache die üblichen Schulfremdsprachen, wäre die Geschichte wohl anders verlaufen. Es gibt da fremdartige, ja bizarre Konstruktionen, die man  am ehesten durch wörtliche Übersetzungen plus Erklärungen knackt. Die Sprache der Trio in Surinam z.B. kennt einen »Frustrativ«. Ein Sprecher muss immer kenntlich machen, ob ein intendiertes Ereignis erreicht wurde oder nicht – im zweiten Fall würde das Verb des Satzes die Frustrativ-Endung -re erfordern. Diese kann aber auch an Nomina erscheinen, wenn eine Person oder ein Gegenstand nicht die üblichen Erwartungen erfüllt: eine weri-re ist eine Frau (weri), die keine Kinder bekommen kann, während ein Mann (kiri), der nicht zum Jäger taugt, zum kiri-re wird. Wenn man im Türkischen über Vergangenes berichtet, muß man an der Verbform markieren, ob man das Berichtete nur vom Hörensagen kennt oder Augenzeuge war. In einer anderen Sprache sagt man nicht „ich habe eine Schwester“, sondern „ich bin geschwestert“. Erst wenn man dahinter kommt, kann man an dieser Stelle auch  Eigenes riskieren, etwa „gebrudert“ oder „gemuttert“, und eine wundersame Sprachvermehrung ankurbeln, die so typisch ist für erfolgreichen Spracherwerb. Missionare, die keine sprachkundigen Helfer hatten, haben oft monatelang an solchen Regelungen herumgerätselt.

(3) Schließlich darf man die merkantile Seite nicht vergessen. Englische und amerikanische Verlage ebenso wie deutsche konnten mit ihren Lehrbüchern Afrika und Asien überschwemmen, ohne irgendeine der Landessprachen zu berücksichtigen. Das wird sich in Zukunft ändern, da es im Zuge der Digitalisierung einfacher geworden ist, u.a. zweisprachige Listen von Wörtern, Wendungen und Sätzen lektionsweise zur Verfügung zu stellen. So kann Millionen von Fremdsprachenschülern künftig unnötiger Frust, oft auch viel Leid  erspart bleiben. Wie in anderen, für unser Überleben weitaus wichtigeren Bereichen haben wir hier kein Wissensproblem, sondern ein Handlungsproblem.

Gibt es eine Grundbedingung, die erfüllt sein muss, damit wir Sprache erwerben?

Ja. Ich muss Zugesprochenes auf doppelte Weise verstehen, (1) was gemeint ist und (2), wie’s gesagt ist. Ich brauche immer den Sinn des Zugesprochenen, etwa die normale, die „gute“ Übersetzung; dazu, wenn nötig, die wörtliche. Dann kann’s losgehen. Finnisch „Onko Teillä ravintola?“ heißt „Haben Sie ein Restaurant?“  Das ist der Sinn, also was gemeint ist, die gute Übersetzung. Aber das allein genügt nicht. Ich muss zudem wissen oder erahnen, wie’s gesagt ist, wie man im Finnischen diesen Gedanken formuliert. Wörtlich im Deutschen nachgebildet sagt der Finne: “Ist  (+ Fragepartikel ko) Ihnen Restaurant?“ Ich muss beides wissen, um weiterzukommen. Das entspricht unserem 2. Leitsatz: „Sprachen lernt man, wenn sie uns – dem Sinn und der Form nach – verständlich zugesprochen werden “ (Butzkamm ³2012). Nichts, kein Bild, keine Geste, keine Aktion ist so flexibel wie eine Sprache, um die verwickelten Konstruktionen einer anderen Sprache aufzudröseln. So ist unsere Muttersprache zugleich die Sprachmutter, die Mutter aller anderen Sprachen, denen wir uns zuwenden.

Ein Gedanke zu „Was ist „Aufgeklärte Einsprachigkeit“?“

  1. Ich habe 35 Jahre lang an einer Schweizer Mittelschule vom 6. bis zum 12. Schuljahr (Matura) Französisch unterrichtet und mich von Anfang an an das Prinzip der Aufgeklärten Einsprachigkeit gehalten. Nach der Einführung eines rein spielerischen und radikal einsprachigen Frühfranzösischen an der Primarschule (Grundschule) haben wir Romanist(inn)en es oft erlebt, dass Schülerinnen und Schüler nach dem Übertritt ans Untergymnasium überhaupt erst verstanden, wovon da im frühen Französischunterricht die Rede gewesen war. Zehn Jahre nach meiner Pensionierung sah ich mich bemüssigt, meine langjährigen Erfahrungen in wenigen Zeilen auf den Punkt zu bringen. Dies weil die grundsätzlichen Diskussionen um die Effizienz des vorverlegten FU wieder aufflammten, mit zum Teil ebenso radikalen Forderungen wie dessen totale Abschaffung. Ich füge diesen Text hier bei, in der Meinung, dass er noch heute aktuell ist.

    Elementare Gedanken zum schulischen Erwerb einer Fremdsprache und zur
    Förderung der sprachlichen Intelligenz
    Da ich mich von allem Anfang an gegen die Art und Weise gewehrt habe (allerdings
    ohne Erfolg), wie Französisch an der Primarschule unterrichtet wird, möchte ich heute,
    wo die Schwächen des Volksschullehrmittels und der dahinter stehenden Leitideen
    offen zutage treten, ein paar grundsätzliche Gedanken in Erinnerung rufen, die
    der langen Erfahrung des Praktikers und dem stetigen Interesse des Beobachters
    entspringen. Meine Motivation für diese Zeilen besteht darin, eine weitere Verschwendung
    von menschlichen, intellektuellen und materiellen Ressourcen zu verhindern
    oder mindestens zu verringern. Das wichtigste Anliegen ist mir aber, dass
    die natürliche Freude der jungen Menschen, die eine neue Sprache erlernen, und die
    Motivation der Unterrichtenden, welche diese vermitteln, nicht durch ineffiziente und
    einseitige Methoden zerstört werden.
    Nachdem Howard Gardner den Mythos von einem allgemeinen IQ schon vor einiger
    Zeit verabschiedet hat und im Gegenzug von multiplen Intelligenzen spricht, die speziell
    gefördert werden müssen, dürfte klar sein, dass die sprachliche Begabung nicht
    allen im gleichen Mass gegeben ist und dass diese dementsprechend nach einer
    eigenen Förderung verlangt. Damit ist nichts gegen einen frühen Fremdsprachenunterricht
    für alle gesagt, aber sehr viel zugunsten einer besonderen Förderung derer,
    bei denen die sprachliche Intelligenz besonders ausgebildet ist und die an der Volksschule
    nicht auf ihre Rechnung kommen. Die Wahl eines eigenen Lehrmittels für die
    Sek P geht daher in die absolut richtige Richtung.
    So oder so drängen sich zur Praxis der Frühfranzösischen aber grundlegende Fragen
    auf. War es nicht ein verhängnisvoller Irrtum, blind auf das alleinseligmachende
    Dogma zu setzen, je früher der Unterricht einsetze, umso besser? Als ob Schulkinder
    die Sprache wie von selbst erlernen würden! Das Lernen im schulischen Kontext
    kann nun einmal nicht 1:1 mit dem Lernen in einem natürlichen Umfeld gleichgesetzt
    werden. Ein einfacher Vergleich der Zeiträume und der Intensität der Inputs, welche
    für diese unterschiedlichen Lernprozesse typisch sind, sollte das jedem und jeder
    klarmachen. (Eine Ausnahme bildet ein echter Immersionsunterricht, der fachliche
    Inhalte in der Fremdsprache vermittelt, was aber nur Lehrkräften mit hoher sprachlicher
    Kompetenz möglich ist.) Und auch wer seine Erstsprache vorschulisch und natürlich
    erworben hat, braucht später eine Vertiefung seiner Sprachkenntnisse, ihrer
    Regeln und ihres Wortschatzes, wenn er sich dieser Sprache im Lesen und Schreiben
    korrekt bedienen will.
    Ein anderer Schwachpunkt des Frühfranzösischen ist das übermässige Vertrauen in
    die Wirksamkeit von Habitualisierung und Sprachhandeln. Gewiss sind dies wertvolle
    Lernformen, die zum Unterricht gehören. Aber reicht es, wenn Lernende in ein sogenanntes
    Sprachbad eingetaucht werden und im Sprachhandeln halb verstandene
    Sprachmuster wieder anwenden müssen? Braucht es nicht vielmehr von allem Anfang
    an auch eine gedankliche Auseinandersetzung mit den Spielregeln der Sprache
    (Wort- und Satzbildung, Textzusammenhang)? Woher kommt es, dass sich das
    Frühfranzösisch von allem Anfang an mit dem Lesen, dem Schreiben, dem Memorieren
    und den grammatischen Strukturen so schwergetan hat?
    Es ist nicht an mir, ein Urteil über die Effizienz des vorverlegten Fremdsprachenunterrichts
    und der verwendeten Lehrmittel zu fällen. Entsprechende Untersuchungen
    sind im Entstehen oder liegen bereits vor. Hingegen möchte ich nahelegen, die Gewichtung
    der fünf sprachlichen Skills (Hören, dialogisches und monologisches Sprechen,
    Lesen und Schreiben) auch im Unterricht der Volksschule neu zu überdenken.
    Eine Sprache ohne die wertvolle Stütze der Schriftlichkeit zu erlernen, scheint mir
    gelinde gesagt fahrlässig. Ausserdem sollte eine abgestufte und wohldosierte Form
    des grammatischen Unterrichts wieder in Erwägung gezogen werden. Leider verzichtet
    das Europäische Sprachenportfolio auf eine verbindliche, den verschiedenen Levels
    angemessene Auflistung von sprachlichen Strukturen. Es beschreibt nur Kompetenzen,
    nicht aber die Mittel zu ihrer Beherrschung. Es wäre daher höchste Zeit,
    auch einen Katalog von verbindlichen grammatischen Minimalstrukturen aufzustellen,
    welcher den jeweiligen Levels (A1, A2 etc.) oder den entsprechenden Schuljahren
    angepasst ist. Es ist nun einmal ohne ein Minimum an formaler Schulung – und
    das bedeutet auch immer eine Dosis „altmodisches“ Üben und Memorieren – kein
    nachhaltiger Erfolg beim Erlernen einer Fremdsprache zu erzielen. Ein ökonomischer
    Umgang mit menschlichen, intellektuellen und materiellen Ressourcen ist auch in der
    Schule überfällig. Dies umso mehr, als in Zukunft die finanziellen Mittel wohl nicht
    mehr so grosszügig gesprochen werden dürften wie bis anhin. Ausserdem machen
    sich bereits Stimmen laut, welche die vollständige Abschaffung des vorverlegten
    Fremdsprachenunterrichts fordern. Ruft ein Extrem das andere?
    Olten, 17. März 2018
    Theo Tschopp

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