Der Mensch – Tier unter Tieren? Hinweise aus dem kindlichen Spracherwerb über das, was den Menschen einzigartig macht.

Teil 2 Das Wunder der Wörter und die Sachlichkeit des Menschen

Vom Zeigen zum Zeichen

Wie kam es zu dem unvergleichlichen, wundersamen Aufstieg des Menschen aus dem Tierreich? Diese Frage wollen wir mit Hilfe von  Hinweisen aus dem kindlichen Spracherwerb beantworten. Viele gesellig lebende Tiere haben vorzügliche Kommunikationsformen entwickelt, die eigentlich nichts zu wünschen übrig lassen, jedenfalls das Überleben der Art sichern. Unsere Mitgeschöpfe können anzeigen, dass sie wütend oder zum Spielen aufgelegt sind. Sie können sich melden: etwa so „Ich bin hier. Wo bist du? Sie können betteln, warnen, drohen oder locken. Für die Kundgabe einer Gestimmtheit sowie für das Auffordern zu etwas  brauchen sie keine Sprache. Die kann noch mehr, und dieses mehr gelangt im zweiten Lebensjahr des Kindes zum Durchbruch: das Benennen. In den Kontakt-, Affekt- und Wunschausdrücken von Tieren und Kleinkindern wird die Mitwelt, werden die Dinge bloß miterfaßt. Aber unter Anleitung der Eltern gelingt es allmählich, aus den auf diese Weise schon angesprochenen Dingen der Welt die reinen Bezeichnungen, wie die Dinge heißen, ihre Namen, herauszudestillieren. Das Kind, das auf die Uhr zeigt und Ticktack sagt, könnte dann wie folgt verstanden werden: »Das da ist eine Ticktack, nicht etwa Ich will die Ticktack.« Gewiss, Tiere lernen voneinander, aber  soweit ich weiß, fehlen

  • das Auf-etwas-Zeigen und Benennen, das bloße Feststellen von etwas
  • das Wissenwollen und Erfragen von etwas
  • sowie das aktive Lehren bzw. Belehrtwerden.

Diese drei. Schauen wir uns das genauer an.

Etwa im Alter von 5 Monaten, wenn das Silbenplappern auftritt, verändern die Eltern ihr Verhalten dem Baby gegenüber. Zuvor konzentrierten sie sich auf den wechselseitigen Blickkontakt und die Gestimmtheit des Kindes. Jetzt aber versuchen sie, seinen Blick auf Dinge und Ereignisse drumherum zu führen und das Objektspiel zu initiieren.

Ein drei Monate altes Baby lächelt uns an; ein sechs Monate altes greift nach einem Spielzeug. Etwas später gelingt es dem Baby, beide Reaktionen miteinander zu koordinieren. Zwei – Mutter und Baby –  sind einverstanden im Hinblick auf ein Drittes. Das ist das magische Dreieck, hätt ich beinah gesagt, der trianguläre Blickkontakt (auch: referentieller Blickkontakt), von einem zum anderen, den Gegenstand einbeziehend. Plötzlich sind nicht nur »Du« und »Ich« im Spiel – etwa wenn das Baby die Ärmchen hebt, um aufgenommen zu werden –, sondern auch ein Drittes, auf das gemeinsam Bezug genommen wird. Gleichzeitig passiert noch etwas: Eltern zeigen und benennen, und die kindlichen Nachahmungen und andere Lautäußerungen werden von ihnen aufgegriffen und den Kindern als Wortmodelle zurückgespielt.

So wird der von der Tante mitgebrachte Teddy dramatisch in Szene gesetzt und präsentiert. Mehr oder weniger zufällig äußert das Baby etwas, das nach Mengmeng klingt. Schon hat der Teddy seinen Namen weg. Immer wieder wird er als “Mengmeng“ benannt und so das Lautbild assoziativ mit dem Teddy verknüpft. So entstehen erste Protowörter, Vorläufer von echten Wörtern, orientiert am lautlichen Vermögen der Kinder.

Die schon lang geübten und erprobten Techniken der Mutter, ihr Kind „bei der Stange zu halten“, d.h. Situationen gemeinsamer Aufmerksamkeit herzustellen und zu erhalten, erreichen mit 9 Monaten diesen neuen Höhepunkt: Das Kind versteht die Zeigegeste.  Gemeinsam wird auf einen im Blickfeld liegenden Gegenstand Bezug genommen (joint attention). Der sechs Monate alte Säugling blickt nur  auf den zeigenden Finger. Er ist eben noch ein kleiner Dummkopf, folgt man einem französischen Sprichwort: Wenn der Finger zum Himmel zeigt, schaut nur der Dummkopf den Finger an. Aber mit neun Monaten beginnt er mit den Blicken der imaginären Linie zu folgen, die vom Finger zum Gegenstand führt. Das ist nichts Selbstverständliches, denn, das ist ja unser Thema, die Zeigegeste findet sich nur beim Menschen. Der Haushund, der schon tausende von Jahren mit dem Menschen zusammenlebt, bildet da vielleicht eine Ausnahme.  Und so ist wohl auch die Wurzel von lateinisch dicere, „sagen“, das Zeigen, woran noch indicare,“anzeigen“, index „Anzeiger, Zeigefinger“ und indicium „Anzeichen, Indiz“ erinnern.  Tomasello spricht von der 9-Monatsrevolution, die u.a. den Menschen vom Tier unterscheide.  Eine Therapeutin berichtet:

„Fast alle Kinder mit Entwicklungsauffälligkeiten zeigen auch im Alter von zwei, drei und vier Jahren diesen triangulären Blickkontakt nur sehr selten. Beschäftigen sie sich mit einem Gegenstand, sind sie entweder ganz davon eingenommen oder aber sie manipulieren ihn ohne echte Freude und Interesse – in beiden Situationen gibt es keinen Anlass, ein Erlebnis zu teilen. Steht das Kind in direktem Kontakt mit einer anderen Person, ist es so damit beschäftigt, mit ihm über den direkten Blick, Gesten oder Laute zu kommunizieren, dass es einen Gegenstand in diese Interaktion nicht einbeziehen kann; dies habe ich beispielsweise sehr oft bei Kindern mit Down-Syndrom beobachtet.“ Zitatende.

Allerdings gibt es beim Zeigen noch einen kleinen, aber höchst bedeutsamen Unterschied. Auf einen Gegenstand deuten, den man haben will, ist erst eine Vorstufe zum »deklarativen«, rein informativen Zeigen. Letzteres ist der Fall, wenn ein Kind bloß auf etwas hinweist, was es interessant findet, und dieses Erlebnis mit seinem Partner teilen will. Schon das bloße Zeigen und die Anteilnahme des Partners befriedigt. Das ist das gestische Benennen in Reinform. Das Baby fordert nicht auf: »gib mir«, »tu was«; sondern macht gewissermaßen eine sachliche Aussage, stellt fest: »das da« – wie im Beispiel Ticktack. 

Dringen Tiere zum Wesen der Zeichen als Stellvertreter vor, haben sie  wirklich Namen für ihre verschiedenen Fressfeinde?  Meine Antwort ist Jein. Sie haben Rufe, aber keine Namen im strengen Sinne. Ihre Zurufe sind ganzheitliche Äußerungen, nicht weiter zergliederbar. Sie ähneln den kindlichen Globalwörtern, die sich auf eine ganze Situation beziehen und infolgedessen nicht zwischen Dingen und Aktionen unterscheiden. Das Bezeichnen bleibt in Appell und Alarm stecken, wie etwa bei den grünen Meerkatzen, einer Affenart, die u.a. mit unterschiedlichen Rufen vor Gefahr aus der Luft (Adlern) und Gefahr vom Boden (Schlangen) warnen. Einen Warnruf für den Weißrückengeier, der wie der Adler am Himmel kreist und gleich groß ist, aber eben nur Aas frisst, gibt es nicht. Solch ein Ruf hätte keinen Wert, keinen Überlebenswert für die Meerkatzen. In ihren Rufen sind Dinge der Welt schon angesprochen, wird das Benennen aber noch überlagert vom Begehren und an den Partner gerichteten Absichten und verbleibt da auch. Die Rufe stehen unmittelbar im Dienst der Arterhaltung. Hier ist die Scheidelinie. Wie ein Singvogel  wahrscheinlich nicht einfach nüchtern feststellt: »Das ist mein Revier«. Gemeint ist vielmehr: »Hau ab, bleib’ draußen, keinen Schritt näher!« Oder, mit einer anderen Melodie: Komm in mein Nest, du Süße!“  Oder: „Wo seid ihr alle? Ich bin hier!“

Tierische Kommunikation ist wohl durchweg emotional und manipulativ. Sie baut keine Gegenstandswelt auf. Mein Hund sagt mir nicht, was er weiß, sondern zeigt mir, was er momentan will und wie er gestimmt ist. Das ist grundverschieden von der Lust der taubblinden Helen Keller, die Namen der Dinge zu erfahren, grundverschieden von ihrem Entdeckerjubel in der berühmten Brunnenepisode, als ihr klar wird, die in die Hand gefingerten Zeichen bedeuten etwas, meinen etwas, nämlich das Wasser, das über ihre Hand rinnt, und können somit stellvertretend für die Dinge sein.

Nur der Mensch hat das Bedürfnis einer umfassenden, allgemeinenWeltorientierung. Sie ist die »allein menschliche Aufgabe, die aus dem Fehlen festgelegter Instinkte folgt. Lautgesten der Tiere sind eher assoziative Kopplungen, statt Namen für etwas. Ein Ereignis – Schlange am Boden – ist an einen Ruf gekoppelt, der eine weitere Reaktion hervorruft. Tritt das Ereignis nicht ein, erschallt normalerweise auch kein Ruf. Dass man mal darüber spricht – für uns das natürlichste von der Welt –, gibt es in der Tierwelt nicht. Kein Interesse.

Reiz und Rausch der Wörter.

Wenn die Erkenntnis durchbricht, dass die Dinge Namen haben oder man ihnen Namen geben kann, zeigen einige Kinder einen wahren Hunger auf Wörter. Das Ehepaar Clara und William Stern berichtet (vor mehr als 100 Jahren, in der ersten Monographie über den Erwerb der Muttersprache):

 „Bei Hilde beobachteten wir um 1;6, daß die Frage isn das? oder das Demonstrativ das! das! ihr Sprechen und Denken beherrschte und für alle möglichen realen Objekte und Abbildungen Bezeichnung heischte; zugleich nahm auch der Wortschatz einen plötzlichen Aufschwung. Desgleichen begann Günther um 1;7 mit der Frage: das? das? die Namen der Gegenstände unermüdlich zu erforschen… Andere Kinder brauchen ähnliche Formeln wie isse? wasn das? Oder is denn das wieder? So wird diese Zeit oft das erste Fragealter genannt.“

Neue Wörter werden erfragt und kommen »wie ein Platzregen«, und die Mutter, die sorgfältig Tagebuch führt, kommt gar nicht mehr mit. Als ob die Kinder plötzlich entdeckten, wie viel es da zu wissen gibt. Als Bubi schon zweieinhalb Jahre alt ist und schon ordentliche Sätze hervorbringt, packt ihn noch gelegentlich dieser Hunger auf Wörter. Der „ist so groß, daß er uns oft bei der Hand nimmt, durch die ganze Wohnung zieht und eine Flut von Fragen über uns ergießt, indem er auf alle ihm lautlich noch unbekannten Dinge zeigt: »Was d’nn das? Is denn das wieder?“ Das Erkenntnisstreben des Menschen ist unaufhaltsam: hier nimmt es seinen Anfang. Kinder, die erst spät zur Sprache kommen und daher einen großen Nachholbedarf an Wörtern haben, veranstalten eine regelrechte Aufholjagd. Als ob sie die Welt sprachlich abarbeitenmüßten, um sie zu vereinnahmen und in ihre Gewalt zu bekommen. Ich erwähnte schon die taubblinde Helen Keller. Und auch bei der siebenjährigen gehörlosen Emmanuelle kommt es zu einer wahren Lernexplosion:

Die Namen der Dinge: ein Zeichen für Bill, eins für Alfredo, eins für Jacques, meinen Vater, meine Mutter, meine Schwester, eins für das Haus, den Tisch, die Katze … Ich werde leben! Und ich habe so viele Fragen! Fragen über Fragen. Ich bin begierig, durstig nach Antworten, denn jetzt kann man mir antworten!

Ich lerne die Gebärdenzeichen mit einer Geschwindigkeit, bei der meine Eltern nicht mitkommen. Sie brauchen zwei Jahre, ich drei Monate.

Nebenbei: Erschreckend, dass die Eltern, beide Akademiker, erst als E. schon 7 ist, also 1978, auf Gebärdensprachen aufmerksam wurden. Die waren allerdings an französischen Gehörlosenschulen bis 1991 verboten, und  in Deutschland sind sie erst seit 2002 offiziell anerkannt (Bundesgleichstellungsgesetz). Vielleicht haben ja mein Bruder und ich mit unserem Buch 1999 und unserem leidenschaftlichen Plädoyer für die Gebärdensprache dazu beigetragen.

Zurück zu unseren Kleinen. Bei ihrem raschen Anwachsen streben die Wörter der Ein-bis-Zweijährigen sehr schnell einer kritischen Schwelle zu. So können sie immer mehr aufeinander verweisen und sich wechselseitig erklären. Wie bei Fremdsprachen, wenn die Bedeutung eines neuen Wortes klar aus dem Kontext hervorgeht. Sprache wird so zum Selbstläufer.

„N’Wiesel?“, fragt meine Dreijährige.

Ja, so’n Raubtier wie ’n Fuchs. Frißt Mäuse wie ’n Fuchs. Ist aber kleiner und flinker und hat im Winter ’n weißen Pelz“, erklärt die Mutter.

Ist das nicht wunderbar, wenn man als Eltern noch voll die Antwort drauf hat!

Jens sieht wie der Wind an den Bäumen rüttelt und schüttelt. „Jetzt weiß ich auch, woher der Wind kommt: Von den Bäumen.“

Da wird’s schon schwieriger. Wo ist der Wind, wenn er nicht weht? Es gilt, sich in kindliche Denkweisen einzufühlen, Dinge zurecht zu rücken, weiter zu entwickeln, Ordnung zu schaffen in den Köpfen der Kinder. Denn sie fragen uns geradezu Löcher in den Bauch.

Es bleibt ja auch nicht beim bloßen Abfragen von Namen. „Mit machen kann“ war eine Zeitlang eine Standardfrage meines Töchterleins. Viel später kommen dann ganze Ketten von Warum-Fragen. Wir gehen mit der Sprache auf wahre Entdeckungsreisen. Eine Zeitlang herrschte bei Samuel die Frage vor: »Was wäre, wenn …?« Beispiel: »Was wäre, wenn ein Vogel Haare hätte?« »Was wäre, wenn ein Kieselstein so wertvoll wie Gold wäre?« »Was wäre, wenn auf der Erde ein luftleerer Raum existieren würde?«  Samuel hat den Konjunktiv entdeckt. Und das treibt ihn voran. Seine Fragen und seine Phantasie sind unerschöpflich.

Wortkenntnis wird zur Sachkenntnis. Kinder erfragen sich nicht nur ein persönliches Wörterbuch, sondern auch ein Sachwörterbuch, quasi eine Enzyklopädie ihrer Welt. Eine Generation gibt so ihre Wortschöpfungen und Weltkenntnis an die andere weiter. Kinder übernehmen von ihren Eltern. Ein simpler Akt mit ungeheuren Folgen für die Menschheit. Neben die genetische Weitergabe von Information tritt die sprachlich-kulturelle, die ein ganz anderes Tempo als die biologische Evolution vorlegt.

Aus Lautgesten im Dienst der Kommunikation entsteht so ein Gefüge darstellender Zeichen, und diese erwiesen sich plötzlich tauglich für neue Anforderungen: nicht nur für die Abbildung der Welt, für das Sammeln und Aufbewahren von Wissen, sondern auch für  das denkende Kombinieren von Wissensbeständen und für die Konstruktion von Wirklichkeit. Damit werden neue, sekundäre Zwecke, die in der Kommunikation keimhaft angelegt sind, freigesetzt.

 Wenn diese Ansicht richtig ist, schlagen wir hier eine Brücke zu denjenigen Evolutionsbiologen, die den Funktionswandel als den »Baumeister der Evolution« betrachten. Sprache wird zum Wissensspeicher und zum Denkmittel, bleibt aber zugleich Verständigungsmittel, das seine Bestimmtheit erst durch »das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft« erreicht, in Humboldts meisterlicher Formulierung. Kommunizieren und Denken sind die beiden Wurzeln, die zur Sprache zusammenwachsen. Oder: In der Sprache nimmt die Kommunikation, die ja zwischen Mutter und Kind von vor der Sprache da ist, das Denken und Darstellen von Wirklichkeit huckepack, bringt es auf den Weg und verändert sich selbst dabei.

Das Fragen und der Wille zur Sprache

Im Akt des Fragens äußert sich eine Wißbegier, die  offenbar nur uns Menschen in die Wiege gelegt wurde. Kein Jungtier, so scheint es, stellt den Alttieren Fragen, wie sie der Mensch kennt. Dass es mit dem Fragen etwas Besonderes auf sich hat, merken wir erst, wenn wir Menschen kennenlernen, die damit Schwierigkeiten haben.  Der berühmte Neurologe Oliver Sacks berichtet von einem elfjährigen gehörlosen Jungen, der gerade erst in eine Gehörlosenschule gekommen war:

Es war ihm unmöglich, das Konzept Frage zu erfassen, geschweige denn eine Antwort zu geben.

Ein Autist, Opfer jener  rätselhaften Entwicklungsstörung, schreibt:

Bis ich siebzehn war, hatte ich nie die Frage in einer Frage erkannt. Ich verstand nur, daß ich zu reagieren hatte, daß Lehrer jetzt von mir etwas erwarteten. Aber mir war nicht bewußt, daß ich Antworten auf Fragen gab. Ich hatte eingespielte Reaktionen, wie man etwa auf die Frage »Wie geht’s?« mit »Danke gut« antwortet.

Auch bei dem autistischen Stefan sind Antworten anfänglich nur einstudierte Reaktionen, bis mit acht Jahren der Durchbruch zur Sprache kommt. Mit acht, wohlgemerkt! Wohl auch nur, weil seine Eltern nicht nachlassen, ihn in ihre Fragen und Gespräche einzubinden. Mit acht Jahren wird er allmählich wissbegierig und fängt an, selbst Fragen zu stellen; und zwar zunächst Fragen, die mit Zahlen zusammenhängen, die ihn schon früh in ihren Bann gezogen hatten. Von daher beginnt er allmählich, das Bedürfnis zu verstehen, das in einer Frage steckt und nach Antwort verlangt. Interessanterweise braucht er aber immer noch Zeit, um viele Fragen, die ihm andere stellen, eben als Fragen zu verstehen. Merkwürdig, seltsam, und doch typisch für Autisten.

Sie (= meine Eltern) beschlossen, auf Fragen, die mit Zahlen gespickt waren, nicht zu antworten. Sie sagten nur: »Das ist keine Frage, das ist eine Rechenaufgabe. Wir wollen jetzt nicht rechnen, sondern sprechen.« Dann gab ich mir Mühe, die Frage so zu stellen, daß sie möglichst keine Zahlen enthielt. Bereitwillig antworteten meine Eltern auch dann, wenn sich doch welche einschlichen. Sie merkten meinen guten Willen und erkannten meine Bemühungen an. Doch oft hatten sie beim Beantworten meiner Fragen Schwierigkeiten, denn ich wollte alles ganz genau wissen und hinterfragte alles und jedes. Ich hatte einen großen Nachholbedarf und saugte Wissen wie ein Schwamm auf. Sehr oft mußten sie in eines der vielen Nachschlagewerke schauen, um antworten zu können. Dauerte die Beantwortung zu lange oder war sie zu ausführlich, so wurde ich wütend. Wenn mir aber eine Frage gestellt wurde, dauerte es immer eine Weile, bis ich antwortete. Zahlen waren etwas Konkretes, aber bei Fragen wußte ich nie, worauf es ankam.18

Das Fragen, so selbstverständlich für uns, scheint also ein ganz elementarer, ja fundamentaler, unser Menschsein mitbegründender Sprechakt zu sein, für den wir normalerweise genetisch vorbereitet sind. Genau das lehren uns die Probleme, die manche Autisten damit haben.

Ich komme noch einmal auf die Brunnenepisode zu sprechen. Da wird der taubblinden Helen blitzartig klar, dass das von ihrer Lehrerin in ihre Hand getippte Zeichen für water als Stellvertreter funktionieren kann für die Sache selbst, also das kühle Nass, das aus der Pumpe rinnt. Am Abend danach kuschelte sich Helen zum ersten Mal von sich aus an ihre Lehrerin und gab ihr einen Kuß. »Ich dachte«, berichtete diese einer Vertrauten, »das Herz würde mir vor Freude zerspringen.« »Helen lernt«, schreibt sie, »weil sie nicht anders kann, genau wie der Vogel fliegen lernt.« Helen selbst analysiert die große Veränderung, die in ihrem Leben stattgefunden hat wie folgt:

Mein inneres Leben war also eine Leere ohne Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, ohne Hoffnung oder Erwartung, ohne Wissbegier, ohne Freude oder Glauben … aber ein Wörtchen von den Fingern eines anderen Menschen traf auf meine Hand, füllte die Leere aus.

Denn als sie den Sinn der Tastzeichen erfasst, will sie wissen, wie die Dinge heißen, unabhängig davon, ob man sich vor ihnen in Acht nehmen muß, ob man sie essen kann usw. Das ist die Wissbegier pur, die Erkenntnislust, die uns vor allen anderen Geschöpfen auszeichnet, der Wille zur Sprache und sprachlichen Abklärung, der appetitus noscendi (den Augustinus für verderblich hielt!), und der sich schon früh zeigt, aber manchen Behinderten zu fehlen scheint. Amerikanische Autoren sprechen von Kindern als den kleinen Wissenschaftlern in der Wiege (Gopnik u.a., The scientist in the crib; deutscher Titel: Forschergeist in Windeln). Unter Preisgabe der untrüglichen Instinktsicherheit unserer Mitgeschöpfe wollen und können wir über alles in der Welt reden und denken – und so entsteht in unseren Köpfen eine neue Welt der Ideen, Interessen und Phantasien. Der Mensch ist das Wesen, das wissen will um des Wissens willen. Der Mensch ist das Wesen, das Fragen stellt und am Ende sich selbst zur Frage wird – wie Augustinus im Zehnten Buch seiner Confessiones schreibt: quaestio mihi factus sum.

Wir halten fest: Nur der Mensch will wissen um des Wissens willen, und sein Wissen weitergeben.

Die Welt noch einmal

Mit der Sprache haben wir eine zweite Welt aus bloßen Luftgebilden geschaffen, in der wir uns so ungemein leicht bewegen können. In Fritz Mauthners Worten: Sprache ist die Welt noch einmal.  Der Namenszauber macht aus dem Menschen mehr als einen Überlebenskünstler, nämlich den Sucher der Sachlichkeit und Wahrheit. Sachlichkeit heißt, der Mensch will wissen, was Sache ist und wie seine Welt beschaffen ist, unabhängig davon, ob sich etwas unmittelbar verwerten läßt. So urteilt ein Anthropologe in einem Bericht über die Eipo, ein Bergvolk aus dem Hochland von Neuguinea:

In allen Gesellschaften haben die Menschen, das ist mein Eindruck nach 25 Jahren Felderfahrung, den Hang und die Fähigkeit zur intellektuellen Beschäftigung mit wissenschaftlichen Fragen. Die Eipo wissen unendlich viel mehr, als für das bloße Überleben notwendig wäre.22

Das ist die neue Bewusstseinslage des Menschen: Die ganze Welt ist potentiell bedeutsam und kann sein Interesse auf sich ziehen. Dabei bilden Erzählen und Berichten ein Gegenstück zum Fragen. »Die Gegenwart zeigt man«, sagt Herder, »aber das Vergangene muß man erzählen23 Wir evozieren Ereignisse eben auch dann, wenn nichts in der aktuellen Situation an sie erinnert. Tiere aber brauchen stets die Gegenwart des Objekts oder eines Teils davon:

Daß Katzen gefährlich sind, kann eine erfahrene Dohle der unerfahrenen nur dann mitteilen, wenn ein solches Raubtier als »Demonstrationsobjekt« vorhanden ist, die erfahrene Ratte kann ihren unerfahrenen Artgenossen nur dann beibringen, daß ein Köder giftig ist, wenn dieser zur Verfügung steht.24

Diese »Objektgebundenheit« verhindert die Anhäufung von Wissen, das über die subjektive Erfahrung hinausgeht. Die Traditionskette wird jedes Mal unterbrochen, wenn im Leben einer Generation eine bestimmte Nährpflanze nicht aufgefunden wird oder ein bestimmter Freßfeind nicht auftaucht.

Für uns aber gilt: Indem wir die Dinge bloß benennen, sind sie uns schon präsent, auch ohne wirklich da zu sein. Wir brauchen keine situative Stütze, wie die Tiere sie brauchen. Allein die Sprache genügt, um uns Dinge und Geschehnisse vor Augen zu führen. Wenn wir schon die Sache selbst nicht haben, so steht uns doch das Wort alternativ zur Verfügung. Diese Abgekoppeltheit von den Dingen, auf die sich die Wörter gleichwohl beziehen, ist mysteriös. Das gilt es zu vertiefen.

Wörter: arbiträr, flexibel und frei

Zurück zur Abgekoppeltheit, zu der wahrhaft erstaunlichen Tatsa­che, dass es Lautungen gibt, Klänge, rhythmische Erschütterungen der Luft, die an unser Ohr dringen und auf etwas verweisen,  zu dem die Klänge sonst überhaupt keine Beziehungen haben, mit denen sie nichts gemein haben. Mysteriös ist das Willkürliche, Arbiträre, quasi Beliebige, Unmotivierte, Unbegründete, Unnatürliche an der Tatsache, dass etwa ein Schall wie “rot”, ungarisch „piros“ oder türkisch „kirmizi“ eine Farbe meint.  Alle drei Lautfolgen haben nichts Rotes an sich, so wie das Wort Zitrone nicht selbst sauer ist, oder das Wort eklig nicht selbst ekelhaft.

Dem Tier sträubt sich das Fell, es plustert sich auf, macht sich groß: Es will Eindruck schinden, signalisiert Kampfbereitschaft statt Unterwerfung. Wer verstünde das nicht? Dagegen muß man Wörter wie Apfel oder französisch pomme lernen. Denn weder Apfel noch pomme usw. haben irgendetwas Apfelartiges an sich. Sie sehen nicht aus wie ein Apfel, noch riechen und schmecken sie wie einer. Weder die Lautfolge water noch das Tastzeichen dafür habenetwas Fließendes an sich. Es gibt auch keinen Kausalzusammenhang wie zwischen Rauch und Feuer. Es steht auch nicht ein Teil für das Ganze, wie etwa Rotkäppchen als Name für das Mädchen.

Dies Anstelle-von-etwas-Treten für etwas anderes, ohne dass Ähnlichkeiten oder andere natürliche Verknüpfungen mit dem Gemeinten im Spiel sind, das ist das Wunder der Wörter, in das die Kinder problemlos hineinwachsen. Es ist einfach so verabredet, dass die Dinge so heißen, wie sie heißen. Da kann man auch schon mal anderer Meinung sein. „Warum is denn das Unkraut so un? fragt Rafael mit 2.7.  Aber dass die Dinge überhaupt Namen haben bzw. bloße Schälle und Klänge auf die Dinge verweisen, wird nicht in Frage gestellt. Nebenbei: Sprache als Absprache, als Abmachung, Vereinbarung,  Konvention, ist zugleich auch Mitsprache, die das Wesen demokratischer Herrschaft ausmacht.

Max Scheler nennt als Grundzug des Menschen und seiner Sonderstellung »Sachlichkeit, Bestimmbarkeit durch das Sosein von Sachen selbst«, die Fähigkeit, kühl zu konstatieren, wie die Dinge sind oder nicht sind, und sachlich zu argumentieren. Nur Menschen verspüren den Drang, die Welt zu katalogisieren, zu archivieren und auf den Begriff zu bringen. Die Sprachlichkeit des Menschen ist auch seine Sachlichkeit: die reine Information ohne Beimischung von Wünschen und Wollen, ohne affektive Ladung. Sachlichkeit ist allein Sache des Menschen.

Dass die Wörter keiner sinnlich-situativen Stütze in der Gegenstandswelt bedürfen, dass sie ganz abgekoppelt sind von den Dingen, auf die sie gleichwohl verweisen, genau das macht sie so flexibel, so frei kombinierbar, so frei für unser Denken. Es ist, als ob damit ein neuer Treibsatz gezündet worden sei, der den Menschen aus dem Schwerefeld des unmittelbaren Handlungszusammenhangs hinauskatapultiert.

Für das Kleinkind ist Sprache zunächst die Welt noch einmal, eine Art Kopie. Bald aber führt sie den Menschen weit darüber hinaus. Zur weltabbildenden Funktion der Sprache kommt die welterzeugende. Nach der Kopie die Konstruktion. Lesen wir ein Buch, so werden wir allein durch Sprache in die abenteuerlichsten Ereignisse verstrickt. Wenn wir es ihm gestatten, kann sich ein Stück fremdes Bewußtsein – das des Schreibers – über Abgründe von Zeit und Raum hinweg in unserem eigenen einnisten. Wie alle anderen Geschöpfe hat auch der Mensch nur ein Leben. Aber nur ihm ist es geschenkt, durch Wort und Schrift zugleich tausend andere Leben mitzuleben. Wörter verselbständigen sich zu eigenen Wortwelten, zu Märchen, Utopien, Fantasien, Romanen.

Dazu verhilft ihm die kompositorische Struktur der Sprache, ein weiteres Alleinstellungsmerkmal, vielleicht das wichtigste. Darüber ein andermal. Jedenfalls ist der Mensch nicht bloß das Tier, das schlicht eine weitere Nische, eben die kognitive, besetzt. Mit seiner Sprache ist er mehr als nur Tier unter Tieren.

Der Mensch – Tier unter Tieren? Was den Menschen einzigartig macht. Hinweise aus dem kindlichen Spracherwerb

Teil 1 Liebende Kommunikation

Gott schuf den Menschen, so weiß es die Bibel, als Abschluss und Krönung seiner Schöpfung. Als sein Ebenbild, als das Wesen unter den Geschöpfen, das ihm am nächsten steht. Lange hat diese Auffassung das abendländische Denken beherrscht. Dann kam Darwin. Wie stehen wir heute dazu?

Noch vor 100 000 Jahren waren unsere unmittelbaren Vorfahren affenähnliche Wesen. Sie waren Tier unter Tieren, in keiner Weise auffälliger oder bedeutsamer als die anderen Tiere um sie herum. Heute beherrschen die Menschen die Welt und pferchen einen Teil ihrer engsten Verwandten in Zoos und Labors. Andere wiederum werden von ihnen fabrikmäßig versklavt und vernutzt.  Der Mensch ist so mächtig geworden, dass er einen Großteil des Lebens auf diesem Planeten inklusive sich selbst auslöschen kann. Ja, er ist dabei, gottähnlich zu werden, indem er neues Leben aus der Retorte schafft.

Die Frage wäre: Wie kam es zu diesem unvergleichlichen, wundersamen Aufstieg? Einem Aufstieg, der, wie wir heute wissen,  auch in die größtmögliche Katastrophe führen könnte? Was eigentlich  macht den Menschen von heute so einzigartig, so viel bedeutsamer als seine Mitgeschöpfe? Worin bestehen die grundlegenden Fähigkeiten und tief liegenden Besonderheiten, die seine Abgehobenheit ausmachen?  Ich versuche, hier einen neuen Zugang zu einem alten Thema zu finden und eine Teilantwort zu geben, indem ich die Sprachlichkeit des Menschen beleuchte, die ihn schon als Kind vor den Tieren auszeichnet. In ihr sehe ich eine Hauptursache für seine Sonderstellung. „Das Geheimnis der Menschwerdung und Sprachwerdung sind eins“,  meint Martin Buber. Der Blick auf das Werden der Sprache beim Kind könnte also helfen, unsere Sonderstellung im Reich des Lebens besser zu verstehen, die uns heute von so vielen strittig gemacht wird. Warum strittig? Zu ihrer Überraschung entdeckten Wissenschaftler, dass bei all der der riesigen Vielfalt von Flora und Fauna, bei all der überwältigenden Fülle der Erscheinungsformen des Lebens biochemische Funktionskreise und Grundstrukturen bis zum Menschen beharrlich und unverändert von der Evolution durchgereicht wurden. Alles Leben ist sich viel näher als bisher angenommen. Von daher gesehen ist der Mensch nichts Besonderes.

So halten uns heute auch die Schattenseiten des Menschen davon ab, ihn als Krone der Schöpfung zu rühmen. Es sollte besser heißen: der Mensch – das bisherige Spitzenprodukt der Schöpfung auf diesem Planeten. Damit setzen wir auf den Fortgang der Evolution und auf die fortschreitende Menschwerdung und Vergeistigung des sprachbegabten Menschen. Das dürfen wir hoffen, weil der Mensch mit jedem Kind neu anfängt. Nebenbei: Kindern zuzuhören und ihren Fortgang durch die Sprache zu beobachten ist ein ganz besonderer Liebesbeweis.

Was also an der Sprache sollte es sein, das uns letztlich unseren Mitgeschöpfen so  überlegen macht? Dazu müssen wir etwas ausholen.

Redegesellen

Der Mensch wird nur unter Menschen ein Mensch, heißt es. (Johann Gottlieb Fichte). Menschen sind Redegesellen und Sprache ist von Anfang an Zwiesprache, der Dialog kommt vor dem Monolog. Denn Sprache entsteht zwischen den Menschen.  Dort spielt sich unser Leben ab. Sprache ist eingebettet im Fühlen und Kommunizieren, Fähigkeiten, die das Leben schon vor dem Menschen entwickelt hat. Kommunikation ist uraltes Naturerbe, was uns heute in wunderbaren Tierfilmen nahegebracht wird. Unsere Lautsprache entwickelt sich also aus vorsprachlicher Verständigung. Die ist ganz-körperlich, gestisch, mimisch und natürlich auch stimmlich.

Der Mensch kann gar nicht nicht kommunizieren, dekretierte Paul Watzlawick. Denn das Nicht-Kommunizieren im Beisein anderer ist selbst schon ein kommunikativer Akt, der des Verweigerns. Beim Menschen ist das Bedürfnis nach komplexer Kommunikation und zugleich die angeborene Bereitschaft zur Sprache  so bestimmend, dass gehörlose Kinder, indem sie miteinander mimisch und gestisch kommunizieren, über wenige Generationen hinweg regelrechte, grammatisch organisierte Gebärdensprachen von selbst, auf sich gestellt, herausbilden. Das wurde u.a. in Nicaragua beobachtet. Taubblinde sind so schwer behindert, dass sie es von allein nicht schaffen. Aber auch sie sind wie wir so sehr auf Kommunikation angelegt, dass sie mit Hilfe von Zeichen, die ihnen in die Hand getastet werden,  kommunizieren lernen.

Sprache ist mithin von Mensch zu Mensch, und von Anfang an ist der Mensch des Menschen Lehrer. Nicht das Buch, nicht die Maschine, nicht das Fernsehen, nicht das Internet. Wenn wir genau hinsehen, ist da zuerst die Ansprache durch die Mutter, die aber sofort zur Zwiesprache, zur Wechselseitigkeit wird. Es ist, als ob das Baby geradezu darauf gewartet hätte, angesprochen zu werden, um dann darauf körperlich, stimmlich zu reagieren. Wir sind das Wesen mit dem sozialen Hirn, dem sozialen Talent, dem sozialen Sinn. Genau das macht uns so clever, weil wir wie kein anderes Wesen in überbordender Vielfalt und Komplexität miteinander kommunizieren und dabei lehren und lernen. Kinder lernen mitzufühlen, den andern verstehen und über den anderen auch sich selbst zu verstehen. Um noch einmal Martin Buber zu zitieren: „Der  Mensch wird am Du zum Ich.“  Er wird auf Unterschiede und Besonderheiten seiner Partner aufmerksam und wird erst so seiner selbst, seiner Eigenart gewahr. Der andere ist der Schlüssel zu unserem Selbstverständnis.

Ich gebe drei Beispiele für unsere emotional-kommunikative Intelligenz, die sich an und mit der Sprache entfaltet: Mein Enkel Milan, noch nicht ganz fünf, fliegt mit seinem Vater nach Argentinien. Da sagt er vor der Abreise aus Frankreich, wo sie leben: „Maman, tu me manques, et moi, je te manque.“ (Du fehlst mir und ich fehle dir). . »Mami, ich habe dich so lieb, weil du mich geboren hast«, sagt Theodor, noch nicht ganz sechs Jahre alt, in einer spontanen Gefühlsaufwallung. Ein Vater berichtet, wie er mit seinem Sohn kuschelt, bevor er einschläft. „Plötzlich höre ich ein leises Schluchzen. „Was ist denn passiert, Toni?“ Weinend antwortet er: „Papa, du bist so arm, weil du keinen Papa mehr hast.“  (ZEIT 29.5. 2019) So einfühlsam können Kinder sein. Das eben ist unsere soziale Begabung,  die in uns angelegt ist und entfaltet werden will. Gewiss:

Alles Leben kommuniziert.

Alles Leben tauscht Informationen aus.

Alles Leben ist mit anderem Leben verbunden. (Andreas Weber)

Aber erst mit der Sprache stößt dieses In -Verbindung-Sein in Dimensionen vor, die für tierisches und pflanzliches Leben unerreichbar bleiben.

Der Reichtum des Gefühlslebens, die Fülle und die Vielgestaltigkeit des Austausches sind exklusiv menschlich. Was können schon Vorschulkinder alles mit der Sprache machen! Sie können fragen und antworten, begründen, sich herausreden, schmeicheln, trösten, schimpfen, schmollen, spotten,  zürnen und zetern,  jemanden auslachen oder umstimmen, nachgeben, angreifen und abwehren, und besonders gut können sie jammern und betteln, meckern und nein sagen.

Hier sind einige Beispiele für frühe pragmatische Gewitztheit.  Zu welchem Raffinement schon Zweijährige fähig sind, zeigt z. B. die Formel dieses schöne, die Gerrit (2;2) gebraucht. Er verwendet sie keineswegs, um seine Bewunderung auszudrücken, sondern wenn er etwas haben möchte, von dem er weiß, dass er eigentlich noch nicht damit spielen soll. Er ist also schon in der Lage, einen Wunsch indirekt auszudrücken.

Ähnlich raffiniert geht meine Enkelin Olivia vor. Sie steht unten an der Treppe, will ganz offensichtlich nach draußen gehen und lockt die Mama hinunter mit „Maman bisou“ (Mama Küsschen geben). Heißt: Wenn  Mama schon einmal unten ist, um mir ein Küsschen zu geben, was sie ja so gern tut, dann geht sie bestimmt auch mit mir raus.

Oder sie ruft trotzig „Maman dodo“ (Mama schlafen gehen), wenn diese ihr etwas verbietet. Mama soll wohl den Mund halten, aber das kann sie noch nicht sagen. Dass manche autistische Kinder mit solchen indirekten Sprechakten nicht klarkommen, zeigt an, dass ihnen hier eine besondere kommunikative Leistung abverlangt wird. Es sind nicht die einzigen Schwierigkeiten, die viele Autisten mit der Sprache haben. Für mich ein klarer Hinweis, dass hier bestimmte genetische Impulse fehlen.

In einem Elternbericht aus dem Jahre 1907 heißt es:

Wird Bubi wegen einer Unart gescholten, versucht er recht schlau unsere Aufmerksamkeit von sich abzulenken, indem er plötzlich auf etwas zeigt: »Da, tickta. Oder:  Da, bau!« Hat man den Jungen durch einen leichten Schlag auf die Finger oder ein unfreundliches Wort oder durch Wegnahme eines als Spielzeug erwählten Gegenstandes beleidigt, so steht er erst mürrisch da, und auf alle Fragen antwortet er nur finster: »nein!« Dann ignoriert er unsere Anwesenheit vollständig, tut, als wären wir Luft und beginnt allein für sich zu spielen; begegnen sich zufällig unsere Blicke mit denen des Knaben, so dreht er uns sofort den Rücken zu: »Nein!«

Die Blickvermeidung, so meine ich,  und das Abstrafen durch Nichtbeachtung sind typisch. Hat er das Schmollen jemandem abgeguckt? Ich halte es für wahrscheinlich, dass es für dieses Verhalten eine genetische Grundlage gibt.

Vorschulkinder können Humor, teils auch schon Ironie. Sie beherrschen eine reiche Palette stimmlicher, melodisch markierter und  mimisch gestützter verbaler Ausdrucksmittel. Haben die Menschen nicht Jahrtausende gebraucht, um diesen kommunikativen Reichtum auszubilden, über den schon Vorschulkinder verfügen? Was davon können Tiere?  In Max Frischs Erzählung Montauk lese ich „Hat man schon zwei Hunde gesehen, die, wenn sie sich treffen, über einen dritten Hund reden, weil sie sonst nichts miteinander anfangen können?“  Zitatende. Sich unterhalten, mal darüber reden, können Tiere das, was uns selbstverständlich ist?

Bei genauer Betrachtung sind beide, Eltern und Kind, auf den Spracherwerb instinktmäßig vorbereitet, auf je eigene Weise. Beide tun – unbewusst – das Richtige. So ist Sprache genetisch doppelt abgesichert, von den Eltern her und vom Kinde her. Die Natur hat hier vorgesorgt. Eltern sprechen uns Sprache zu, wo noch keine ist.  Mit ihrer Liebe wecken sie die Liebe, wo noch keine war. Liebende Kommunikation, von den Eltern initiiert. So gesehen sind sie wichtigsten Personen im Leben eines Menschen. Unter ihrer Führung entwickeln sich Kinder zu im Tierreich einmaligen Künstlern der Kommunikation.

Wir sind „Resonanzwesen“, sagt ein Soziologe, und Kinder sind es von Anfang an und ganz besonders, sagen die Kindersprachforscher.

Wir fragen: Welche Wesenszüge der Sprache bewirken denn eigentlich, dass menschliche Kommunikation so  viel reicher, so ungemein gehaltvoller und so unendlich subtiler ist als alle tierische? Mit seiner Sprache ist der Mensch  mehr als nur Tier unter Tieren. Denn es gibt klare Alleinstellungsmerkmale der Menschensprache, die schon bei Kindern sichtbar werden. Die wollen wir in weiteren Vorträgen herausarbeiten.