Vortrag kurzgefasst: Zentrale Techniken der Text- und Grammatikarbeit sind in ihren psycholinguistischen Grundlagen nach wie vor nur unzureichend geklärt und theoretisch abgesichert. So werden im Kernbereich des Unterrichts Irrtümer fortgeschleppt und Lücken nicht aufgearbeitet, die sich besonders beim Einstieg in die Fremdsprache bemerkbar machen, mit nicht mehr zu übersehenden Folgen für lernschwache und wenig motivierte Schüler, die schnell aufgeben. Richtig anfangen und kompetenzorientiert arbeiten betrifft die gezielte Mitwirkung der Muttersprache (u.a. in der Weise der Sandwichtechnik), betrifft weiterhin den Einsatz des Schriftbilds nach Art des Mitlesverfahrens und das Ausreizen produktiver Satzmuster, indem wir „von endlichen Mitteln unendlichen Gebrauch machen“ (Humboldt). Das ist das generative Prinzip, das dem allseits akzeptierten kommunikativen Prinzip an die Seite zu stellen wäre. Der Vortrag konzentriert sich auf bilinguale Strukturübungen, d.h. auf die methodische Umsetzung dieses Prinzips.
Richtig anfangen…? Ja, machen wir denn da etwas mehrheitlich falsch? Muss da etwas korrigiert werden? Im Untertitel zur dritten Auflage meiner Methodik heißt es gar: Fremdsprachen anders unterrichten. Anders unterrichten – ist das nicht eine Anmaßung? Ist nicht der bilinguale Sachfachunterricht eine echte Erfolgsstory? Sind wir nicht medientechnisch auf der Höhe der Zeit? Ist der Unterricht nicht schon längst bunt und vielseitig genug geworden? Sind nicht viele Anregungen aus der humanistischen Psychologie inzwischen Teil des Hauptstroms? Ist der Unterricht nicht in Bewegung gekommen, im wahrsten Sinne des Wortes? TPR, Raps, Entspannungsübungen, Projekttage, Fantasiereisen, Simulationen, Dramapädagogik, Lern- und Gesellschaftsspiele aller Art, Quizshows und Debattierclubs haben Einzug gehalten. Auch Partnerarbeit – für Fremdsprachen enorm wichtig – und “Lernen durch Lehren” sind in den Schulen angekommen. Und noch immer schaffen es Lehrer, ihre Schüler für Shakespeare zu begeistern.
Soll das etwa anders werden?
Natürlich nicht. Aber gerade am Anfang – sei’s Spanisch in der VHS oder Englisch in der Grundschule – bleibt manches oft Patchwork-Methodik, weil ohne solides psycholinguistisches Fundament. Unser Wissen über den Spracherwerb ist in unseren Lehrwerken noch nicht optimal umgesetzt, und die im Schüler bereitliegenden Sprachlernfähigkeiten werden nicht optimal angesprochen, mit z.T. verheerenden Folgen für lernschwache und wenig motivierte Schüler, die schnell aufgeben.
Nehmen wir als Vertreter des Mainstreams das Buch Englisch in der Grundschule, eine Fundgrube für einen facettenreichen, motivierenden Unterricht (Klippel 2000). Aber es heißt da: Die Lehrerin kann “– als letzte Möglichkeit – ins Deutsche übersetzen”. Und: “Übersetzt wird aus der Not, wenn andere Mittel der Bedeutungsvermittlung versagen” (Klippel 2000, 22, 37). Die Muttersprache für den Notfall? Ich sehe das radikal anders: Die Muttersprache liefert ganz unbestreitbar die kognitiven Grundvoraussetzungen für weiteres Sprachenlernen, sie ist der Boden unter unseren Füßen und in der Praxis auch das biegsamste, schmiegsamste, schnellste und genaueste Mittel der Bedeutungs- und Grammatikvermittlung. Es ist ein Riesenunterschied, ob man etwas als Nothelfer zulässt oder als Kapital ansieht, das man einsetzt und für sich arbeiten lässt. In einem Fall ist es die Ausnahme, im anderen die Regel. Ich möchte Ihnen heute zeigen, um welche Chancen der Grammatikvermittlung sich Lehrer bringen, die bilinguale Arbeitsformen nicht mitverwenden. Denn mit ihnen vertreiben wir das Schreckgespenst der Grammatik, das manchen Schülern die Lust an der Sprache verdirbt. Denn Grammatik von der Muttersprache her ist Grammatik vom Schüler her. Die eigentliche Anmaßung ist doch die, eine zweitausendjährige abendländische bilinguale Lehrtradition zu verwerfen und sprachwissenschaftliche Grundsatzpositionen (für die ich Humboldt reklamiere) außer Acht zu lassen, ohne neue tragfähige Theorie und empirische Absicherung.
Das muss anders werden. Und noch etwas: Die Fremdsprachendidaktik setzt seit Jahrzehnten alles auf die Karte der Kommunikation und der Handlungsorientierung. Enorm wichtig, aber muss man darüber aus den Augen verlieren, dass unsere Sprachen, wie schon Humboldt gesehen hat, kombinatorische Systeme sind, die immer neue Kombinationen erzeugen? Das ist ein Wesenszug aller Menschensprachen, im Gegensatz zu Tiersprachen. Dank der Kombinatorik werden uns neue Sätze und damit eben auch neue Ideen nie ausgehen. Denn Satzvariationen sind auch Sinnvariationen. Das ist entscheidend, und zwar nicht nur didaktisch entscheidend. So wird Grammatik zum Schwungrad des Denkens: Gott schuf den Menschen. Schuf Gott den Menschen? Der Mensch schuf Gott. Wie bitte? Der Mensch schuf Gott? Ja, geht auch, nicht wahr?
Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Der Mensch sei dem Menschen ein Mensch. Die Grammatik erlaubt’s. Ebenso: Der Hund wackelt mit dem Schwanz. Der Schwanz wackelt mit dem Hund, etwa wenn Herr Rösler Frau Merkel vorschreibt, wen sie als nächsten Bundespräsidenten vorschlagen soll. Hier gilt es ein Potential richtig auszureizen, das schon in der Sprache und im Sprachlerner steckt. Spracherwerb ist eben auch Strukturerwerb. Das übersehene generative Prinzip der unendlichen Satz- und Gedankenvermehrung (Humboldt) – noch mal: Satz- und Gedankenvermehrung – wäre dem allseits akzeptierten kommunikativen Prinzip an die Seite zu stellen.
Und ein Drittes muss anders werden: Für Schüler, die schon lesen und schreiben können, also ab drittem Schuljahr, sind neue Texte, Basistexte wie Dialoge und Lieder, die viel Neues bringen, zugleich mit dem Schriftbild einzuüben, nach Art des Mitlesverfahrens. Es heisst aber, das Schriftbild soll generell erst dann auftauchen, wenn das neu Eingeführte schon lautrichtig gefestigt ist. Das mag bei Einzelwörtern in einer Erzählphase völlig richtig sein, in anderen Fällen aber ist das Mitlesverfahren effektiver. Ich werde diesen Punkt nicht weiter ausführen und mich auf die beiden anderen psycholinguistisch grundierten Kernbotschaften konzentrieren. Ihre Beachtung hat weitreichende Folgen. Denn bei gezielter Mithilfe der Muttersprache (oder anderer, schon vorhandener Sprachen) gelingt es eher, Satzvariationen als Sinnvariationen aufzufassen, ja es kann uns die fremde Sprache auf Anhieb vertraut werden – ein Effekt, der besonders bei ferner liegenden Sprachen offenkundig wird. Sprachen wie das Chinesische werden aber in unseren Schulen bald mehr Platz bekommen.
Ich möchte nun etwas theoretisch vorab klären, bevor ich eine konkrete bilinguale Arbeitsform vorstelle, eine von vielen, die in den Lehrwerken nicht vorkommt. Denn nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie. Die richtige Theorie hilft, das, was wir sehen und hören, auch richtig zu verstehen.
Sprache ist uns anerschaffen, sie gehört zu unserem Geburtsrecht. Aber sie ist nicht das erste. Wir verfügen schon über ein kognitives Potential vor der Sprache, das in der Sprache und mit ihr weiterentwickelt wird.
Kognitiv meint hier zunächst unser Weltverständnis, alles, was wir von unserem Leben verstehen und wie wir Wirklichkeit erfasst und geordnet haben. Dazu gehört auch so etwas Fundamentales wie unser Symbolvermögen, das mit der Muttersprache heranreift: die wahrhaft erstaunliche Tatsache, dass es Lautungen gibt, Klänge, rhythmische Erschütterungen der Luft, die an unser Ohr dringen und auf etwas verweisen. Das eben ist ja eine der großen Errungenschaften des menschlichen Geistes, dass etwas für etwas anderes stehen kann, zu dem es sonst überhaupt keine Beziehung hat. Es ist das Arbiträre, Unmotivierte, Unbegründete in der Tatsache, dass etwa ein Schall wie “rot” ein Schall eine Farbe meint. Kinder sind wie wir alle symboltüchtig, sie kennen intuitiv das Wunder der Zeichenverwendung, das Wunder der Wörter. Hinzu kommen Grundmuster des Handelns wie Essen, Schlafengehen, Geben und Nehmen, basic event types und all die verschiedenen Lebenswelten, in denen wir uns schon auskennen, drinnen und draußen, beim Arzt, im Bus, auf’m Spielplatz, beim Eismann usw.
Wir haben einen Sinn für Vergangenes und Noch Kommendes entwickelt, kennen die Logik von und und oder, gleich und Gegenteil, Teil und Ganzes, und all das in engster Verbindung mit der Muttersprache. Sallwürk (1881, 243) hatte völlig recht, als er gegen die Direktmethodiker argumentierte: “Es handelt sich vorerst, d.h. beim elementaren Unterricht in den Fremdsprachen gar nicht um die Gewinnung von Vorstellungen und Begriffen, sondern … um die Einkleidung gewonnener Begriffe in fremde Form.” Nur weil wir schon ohne weiteres übers Wetter sprechen können, können wir es auch auf Englisch oder Chinesisch versuchen.
Wir tragen diesen Alltagsverstand, die erste Ordnung der Dinge, unsere Lebensbegriffe in die Fremdsprache hinein. Wir können gar nicht anders. Täten es die Schüler nicht zum allergrößten Teil von selbst, könnten die Lehrer gleich einpacken.
Zu den kognitiven Vorleistungen gehört nun auch unsere kommunikative Kompetenz
Kinder können nur leben im lebendigen Austausch mit ihren Pflegepersonen, sonst verkümmern sie. Von Geburt an erfahren wir uns als Wesen, die auf das Du zielen und begreifen, dass diese Du auch von uns etwas will.
Vorschulkinder können bitten und betteln, behaupten, bestätigen, begründen, sich einschmeicheln, trösten, schimpfen, spotten, jemanden umstimmen, nachgeben, verbal angreifen und abwehren, und besonders gut können sie jammern. Sie verfügen über eine reiche Palette stimmlicher, intonatorisch markierter, expressiver, mimisch gestützter Ausdrucksmittel.
Weil Kinder schon in dieser Weise kommunikativ kompetent sind und schon früh eine emotional-kommunikative Intelligenz entwickelt haben, lautet meine erste praktische Empfehlung, am Anfang ständig Sprache zu inszenieren und kleine Stückchen einzustudieren, und zwar mit der bilingualen, schriftgestützten Sandwich-Technik.
Lehrer spricht vor: Will you make me a sandwich? / Machst du mir mal ‘n Brot? / Will you make me a sandwich?
Also das muttersprachliche Mitteilungsäquivalent dazwischenpacken. Dies in aller Kürze.
Die mit der Muttersprache verwobenen kognitiven Vorleistungen schließen neben dem (1) Alltagswissen, (2) der kommunikativen Kompetenz, (3) auch eine grammatische Potenz ein.
Intuitiv haben wir nicht nur das Wunder der Wörter, sondern mit den Wörtern auch das Wunder der Grammatik verstanden. Schon das vorsprachliche Kind weiß zwischen Personen und Sachen zu unterscheiden; der Unterschied wird dann von der Sprache ergriffen, ausgearbeitet und grammatisch relevant. Es kann auch schon unterscheiden, wer etwas tut und wem etwas angetan wird, von wem, wo und womit. Bekannt sind ihnen auch schon Wechselwörter wie “du” und “ich”, die je nach Sprecher und Situation jemand anderes meinen, nicht dieselbe Person. Damit haben Kleinkinder noch zu kämpfen, die “ich” und “du”, “mein” und “dein” gern verwechseln. „Wie sehr hier ein Lernproblem besteht, zeigen uns Kinder mit verzögerter Sprachentwicklung, die mitunter jahrelang die Pronomina umkehren“ (Butzkamm & Butzkamm, S. 15) Wie könnten Kinder den progressiven Aspekt verstehen, wenn sie noch nicht den Begriff des Andauerns und Vorübergehens entwickelt hätten? Wieviele Relativsätze hat ein Kind schon gehört, mit dem man Bilderbücher ansieht: “Und wo ist der Mann, der …“? Und wie heißt das Tier, das…?
Aber, aber, könnten Sie sagen, das Problem ist doch, dass Sprachen dies unterschiedlich umsetzen! Jein! Die Vorleistungen der Muttersprache beschränken sich keineswegs auf formale Gemeinsamkeiten zwischen den Sprachen. Z.B.: Wir verstehen schnell, dass eine Sprache ein anderes Possessivum haben kann für einerseits ‘mein Kopf’ oder ‘mein Vater’ und andererseits ‘mein Löffel’ oder ‘mein Buch’. Wir können eben den Unterschied zwischen unveräußerlichem, nicht von mir trennbarem Besitz und einer anderen Besitzweise, einem auswechselbaren Besitz, nachvollziehen. So sind schon die Grundzüge der Temporalität, Kausalität, Konditionalität, Finalität und Konzessivität erworben, und zwar in dieser Reihenfolge. Wie beliebt sind Wenn-Sätze bei Eltern! Grammatiken, die Bedingungen ausdrücken, ohne ein Wörtchen wie “wenn” zu haben, sind nachvollziehbar, weil wir die zugrunde liegende Idee des “Wenn – dann” schon haben.
Neu zu lernen wären nur die spezifischen fremdsprachlichen Ausprägungen. Die Verschiedenheiten liegen an der Oberfläche, über den Konstanten menschlichen Denkens in der Tiefe.
Auch dieses Verständnis tragen wir in die Fremdsprache hinein. Täten wir es nicht, wir kämen nicht weit. In allen Sprachen liegt die eine Sprache der Menschheit. Genau so hatte es Humboldt gesehen (1963, 144). So wie das Leben selbst hier auf Erden nur einen Ursprung hat. Denn wo immer es hier Leben gibt, wird dasselbe genetische Wörterbuch und dieselbe Grammatik der Kombination und Rekombination durchgereicht, seit vier Milliarden Jahren.
Allerdings, das muss jetzt betont werden, ist unsere sich in der Muttersprache entfaltende grammatische Potenz keine analytische Intelligenz. Denn „während die Sprache unser Bewusstsein hell werden lässt, geschieht sie selber unbewusst“ (Karl Jaspers 1964). Die Grammatik ist im Tun, im Sprechen selbst versteckt. Sie ist nicht bewusst-rational, sondern rational-analog. Sie ist eine „unbewusst wirksame Intelligenz des Leibes“, wie es der Physiologe Hans Schäfer (1971) formuliert, vergleichbar mit den raffinierten Rechnereien, die unser Gehirn vornimmt, damit all die anderen Lebensvorgänge, unser Alltagskönnen zustande kommen wie das Sehen, Gehen und Greifen. Wir können sehen, gehen, greifen, kauen, sprechen, aber nur Spezialisten können dieses Tun aufbröseln und beschreiben, in welchen Einzelschritten, mit welchen Routinen und eingebetteten Subroutinen sich das vollzieht. Wir sind sinnlich und motorisch begabt, aber nicht in gleicher Weise analytisch begabt. Wir können nicht einfach in diese Fähigkeiten hineinblicken und uns dann sagen, wie sie funktionieren.
Fazit: “Die Kinder würden die Sprache nicht lernen, wenn sie nicht schon eine Sprache hätten”, schreibt Jean Paul, die Muttersprache hieße richtiger die „Sprach-Mutter“. Wer sie bloß als Feuerwehr gebraucht, übersieht, dass sie die unbefragte Voraussetzung allen Unterrichts ist. Die Lehrer müssen bilinguale Arbeitstechniken, die in meiner Methodik detailgenau beschrieben werden, kennen und verwenden, natürlich im Verbund mit einsprachigen Arbeitsformen, und natürlich in einem Unterricht, der von Anfang an anstrebt, die fremde Sprache als Unterrichtssprache durchzusetzen. Letzteres ist allgemeiner Konsens.
Und nun zum generativen Prinzip. Sprachen sind ja nur deshalb erlernbar, weil man in ihnen „von endlichen Mitteln unendlichen Gebrauch macht“ (Humboldt). Genau das ist die Leistung der Grammatik, die unendlichen Möglichkeiten, die aus endlichen Mitteln erwachsen. Das generative Prinzip, d.h. Strukturübungen müssen zu einem Eckpfeiler der Methodik werden.
Sehen wir uns doch mal an, wie Kleinkinder gelegentlich Satzmuster durchspielen, in Selbstgesprächen, ohne Partner. Sie spielen das Analogiespiel. Sprache erweist sich als ein Erzeugungssystem, ein ständiges Weiterschaffen und Sätze-Erfinden durch das Mittel der Kombinatorik. Gisa, zwei Jahre alt, brabbelt vor sich hin: Mama haha (= schläft, geht schlafen); Giki haha, Wauwau haha; Mama mhm (= soll essen, isst); Papa mhm; Gisa mhm…Es entwickelt sich schließlich ein abstraktes Schema, hier Handlungsträger – Handlung. […]
Was Kinder hier von sich aus tun, können wir auch im Unterricht umsetzen, und zwar am besten mit bilingualen halbkommunikativen Strukturübungen […]
Diese sind reichlich dokumentiert und analysiert in meiner Methodik Lust zum Lehren, 3.
Auflage, S. 249ff. und zwar für Englisch und Französisch als Fremdsprachen.