Eine solide theoretische Grundlage für das Lehren sind unsere Erkenntnisse darüber, wie Menschen auf natürliche Weise sprechen und Sprachen lernen. Danach sind vier Dinge grundlegend: (1) unsere soziale Begabung, mithin das kommunikative Prinzip; (2) unser Talent zur Nachahmung, mithin das imitative Prinzip; (3) die Fähigkeit zur Mustererkennung und die kombinatorische Potenz der Sprache, mithin das generative Prinzip; (4) eine natürlich gewachsene Sprache als Grundlage jeden weiteren Spracherwerbs, mithin das bilinguale Prinzip.
1. Wir sind das Wesen mit dem sozialen Hirn, dem sozialen Talent, der emotional-kommunikativen Intelligenz. Genau das macht uns so clever, weil wir wie kein anderes Wesen miteinander kommunizieren und dabei voneinander und füreinander lernen. Schon Vorschulkinder beherrschen eine reiche Palette stimmlicher, intonatorisch markierter, mimisch gestützter, emotional gefärbter Ausdrucksmittel. Sie bringen dies Kommunizieren-Können mit in den Unterricht.
So sind Äußerungen die primäre Sprachwirklichkeit, nicht Einzelwörter. Damit bietet sich als der ideale Sprachlehrstoff und Allzweckwaffe des Unterrichts der Dialog an, für den Partner unabdingbar sind: face to face communication . Unsere Aufgabe wäre, regelmäßig kleine Stückchen so zu erarbeiten, dass alle sie am Ende frei und natürlich sprechen und spielen können. Mit solcher Simulation kommen wir der Echtsituation des Gesprächs nahe. Es ist Zwiesprache, Rede und Gegenrede, Sprache in Bewegung, Sprache mit Herz, Hand und Hirn, melodisch und rhythmisch, erlebt und gefühlt. Spiellust und Sprechlust führen bei Lernern aller Altersstufen zu gemeinschaftsbildenden Könnenserlebnissen.
Unsere Lehrwerke bieten aber bei weitem nicht genug kurze, spielbare Sketche im lernpraktischen Layout an.
2. Der Mensch ist ein Genie des Nachahmens. Intensives, störungsfreies Vor- und Nachsprechen ist die Grundform des Übens. Die unabdingbare Hör- und Sprechschulung muss an Äußerungen ansetzen. Für intensives imitatives Einüben von Dialogen sind präzise Lehrtechniken entwickelt worden. Dennoch ist imitatives Lernen die oft vernachlässigte Basis allen Sprachenlernens. Aber mit ungeschulten Ohren und einem Knoten in der Zunge kommt keine Sprechfreude auf.
3. Eingeübte und einwandfrei gesprochene Sätze dürfen nicht in den Basistexten, seien es Sketche, stories oder songs, eingekapselt bleiben, sondern müssen variiert werden, um für neue Situationen zu passen. Ein Satz muss zum Rezept für viele weitere Sätze werden, d.h. als produktives Satzmuster erkannt und letztlich als Redemittel benutzt werden. Die Lerner müssen angeleitet werden, „von endlichen Mitteln unendlichen Gebrauch“ zu machen – nach Humboldt und Chomsky ein Wesensmerkmal aller Menschensprachen – um auf diese Weise Neues zu riskieren, das ganz Eigene, noch nie Gehörte.
Implizites statistisches Lernen wie im natürlichen Spracherwerb bedarf jedoch massiver lebendiger Sprachkontakte, die der Unterricht nicht liefern kann. Dort gilt es, den Prozess der Mustererkennung abzukürzen (z.B. durch muttersprachliche Spiegelung) und Satzvariationen als Sinnvariationen einzuüben, damit die erkannten Muster einwurzeln und aus dem Wissen ein Können wird. Die Bereitschaft der Schüler zur grammatischen Sprachvermehrung ist zwar da, sie muss aber angekurbelt werden. Hier kommen halbkommunikative, mündliche, bilinguale Strukturübungen ins Spiel. Sie müssen zu einem Eckpfeiler der Methodik werden, fehlen aber in unseren Lehrwerken fast ganz.
4. Es gilt das Muttersprachenparadox: Die Fremdsprache als Arbeitssprache durchzusetzen, gelingt am besten, wenn wir systematisch die Muttersprache zu Hilfe nehmen. Nur der Mensch, der schon Sprache hat, kann weitere Sprachen auch allein erwerben, aber eben nur auf der Grundlage einer erworbenen, in persönlicher Interaktion natürlich gewachsenen Sprache, im Regelfall die Muttersprache. Sprache lernt man nur einmal, meist in den ersten fünf Lebensjahren. Hier wird die Direktverschaltung zwischen Hören und Sprechen angebahnt und ausgebaut. Ein tausendfach verästeltes neuronales Wegenetz mit stark befahrenen Datenautobahnen entsteht. Dabei wird enorm viel von dem gelernt, worauf wir auch beim späteren Sprachenlernen zurückgreifen müssen: die Unterscheidung von Personen und Sachen, von Einzahl und Mehrzahl, von davor und danach, was schon war und was noch kommt. Wir verwechseln nicht mehr mein und dein oder du und ich, wie es noch Kleinkinder tun, d.h. wir können mit Wechselwörtern, den Pronomen umgehen. Wie könnten wir Lernern den progressiven Aspekt des Englischen vermitteln, wenn sie nicht schon den Begriff des Andauerns hätten?
Kurz, die Grammatik unserer Muttersprache hat uns das Tor zu allen anderen Grammatiken weit geöffnet. Die an der Muttersprache und mit ihr entwickelten grammatischen, kommunikativen und allgemein kognitiven Kompetenzen (unser Weltwissen) ermöglichen überhaupt erst das schulische Lernen einer Fremdsprache. Genau dieser Erkenntnis aber, und den Konsequenzen, die daraus zu ziehen wären, hat sich der Mainstream ein halbes Jahrhundert lang verweigert, so dass auch in den Lehrwerken die diskrete, gleichwohl systematische Mithilfe der Muttersprache bisher nicht optimal umgesetzt ist.
5. Jedes Lehrsystem muss die Grundbedingung des Spracherwerbs erfüllen, das doppelte Verstehen. Wir brauchen den, der zu uns spricht. Damit Zugesprochenes aber nicht abprallt und vorbeirauscht, sondern andockt, brauchen wir den, der uns verständlich anspricht. Wir brauchen comprehensible input.
Diese Bedingung – verstehen, was gemeint ist – ist notwendig, jedoch nicht immer hinreichend. Kinder haben oft schon den Sprecher verstanden, bevor sie das Gesprochene auch im Wortlaut verstehen. Das muss aber hinzu kommen. Notwendige – und zugleich hinreichende – Grundbedingung des Spracherwerbs ist ein zweifaches Verstehen, ein Doppelverstehen. Das ist mein Kernsatz: „Sprachen lernt man, wenn sie uns – dem Sinn und der Form nach – verständlich zugesprochen werden“.
Diese These ist u.a. erläutert in Lust zum Lehren, Lust zum Lernen (3.Auflage 2012, S.87ff. und passim). Mit englisch-chinesischen Beispielen auch in dem Artikel Why make them crawl if they can walk? (2011). Ebenso in Kapitel 2 „How learners break into the speech code: the principle of dual comprehension“ von Butzkamm & Caldwell: The Bilingual Reform (2009).
Die optimale Umsetzung in der Lehrpraxis wäre die Kombination von normaler und wörtlicher Übersetzung, wie in diesem arabischen Beispiel:
Wo ist das Besteck? |
Ayna el-malaaek w-el-sakakiin? |
Genügt uns das? Nein, um weiter zu kommen, brauchen wir zusätzlich das wörtliche Verstehen:
Ayna el-malaaek w-el-sakakiin?
*Wo die Löffel und die Messer?
Jetzt erst können Sie sich an eigene Sätze heranwagen, nach obigem Muster, und arabisch formulieren: Wo die Gläser? Wo der Bahnhof? usw.
Natürlich gibt es eine Reihe von Feinheiten zu beachten, je nachdem um welche Konstruktion und um welches Sprachenpaar es sich handelt. Klar, dass man keine Kombination braucht, wenn normale und wörtliche Übersetzung deckungsgleich sind: Ich liebe dich – I love you. Oder: Mein blaues Klavier – my blue piano. Andererseits gibt es Konstruktionen, die sich nicht eins-zu-eins spiegeln lassen. Dann helfen zusätzliche Erklärungen, wie hier beim Finnischen:
Finnisches Original Was ist gemeint? Wie ist es gesagt?
Onko teillä kahvikannu?
Onko teillä teekannu? |
Haben Sie eine Kaffeekanne?
Haben Sie eine Teekanne? |
Ist + ko Ihnen Kaffeekanne?
Ist + ko Ihnen Teekanne? |
„Ko“ ist unübersetzbare, angehängte Fragepartikel.
7. Insbesondere zwei der genannten Schwachstellen haben echte Fortschritte über Jahrzehnte verhindert: (1) die totale Verkennung der Muttersprache, der nur die Rolle des Nothelfers zugestanden wurde, wo sie doch nichts weniger als das Fundament jeglichen weiteren Spracherwerbs abgibt; (2) im Zusammenhang damit die ungenügende methodische Umsetzung des kombinatorischen Prinzips, das Menschensprachen im Kern auszeichnet und sie überhaupt erst lernbar macht. Wenn wir uns hier neu orientieren, können wir den FU entscheidend verbessern.
Sehr geehrter Herr Butzkamm,
Danke, dass Sie so offen und wissenschaftlich unterstützen!
Ich benötige HInweise über sinnvolle Zeitstrukturen für den FSU- und bin der Meinung, dass z.B. Englisch, Französisch, Russisch jeweils unterschiedliche Rhythmen der Wiederbegegnung bzw. des Kontakts „braucht“
Gibt es hierzu Aufsätze ? Ist das wissenschaftlich aufgearbeitet? Es geht letztlich um die Begründung und sinnvolle Einteilung von Wochenstunden an Schulen. Ich arbeite an einer MontessoriSchule in Sek I und SekII.
Vielen Dank für Ihre Bemühungen!
Mit freundlichen Grüßen,
U. Müller
Sinnvolle Zeitstrukturen – das ist eine schwierige Frage und m.E. nirgendwo überzeugend und gut abgesichert beantwortet. Leider kann ich Ihnen nicht mehr bieten, da ich seit vielen Jahren die Fachliteratur nur noch sehr selektiv zur Kenntnis nehme. Aus dem Bauch heraus würde ich sagen: Jeden Tag 30 Minuten Englisch wäre nicht schlecht. Differenzierung nach Sprachen? Null Ahnung. Zur Rhythmisierung und Wiederbegegnung: Schlagen Sie bei Wikipedia unter spaced repetition und dort bei Pimsleur’s graduated-interval recall nach.
Herzlichen Dank! Nicht gerade zeitnah, aber immer noch an derselben Frage. Sie haben mir doch sehr geholfen! Alles Gute! MfG