Der Mensch – Tier unter Tieren? Was den Menschen einzigartig macht. Hinweise aus dem kindlichen Spracherwerb

Teil 1 Liebende Kommunikation

Gott schuf den Menschen, so weiß es die Bibel, als Abschluss und Krönung seiner Schöpfung. Als sein Ebenbild, als das Wesen unter den Geschöpfen, das ihm am nächsten steht. Lange hat diese Auffassung das abendländische Denken beherrscht. Dann kam Darwin. Wie stehen wir heute dazu?

Noch vor 100 000 Jahren waren unsere unmittelbaren Vorfahren affenähnliche Wesen. Sie waren Tier unter Tieren, in keiner Weise auffälliger oder bedeutsamer als die anderen Tiere um sie herum. Heute beherrschen die Menschen die Welt und pferchen einen Teil ihrer engsten Verwandten in Zoos und Labors. Andere wiederum werden von ihnen fabrikmäßig versklavt und vernutzt.  Der Mensch ist so mächtig geworden, dass er einen Großteil des Lebens auf diesem Planeten inklusive sich selbst auslöschen kann. Ja, er ist dabei, gottähnlich zu werden, indem er neues Leben aus der Retorte schafft.

Die Frage wäre: Wie kam es zu diesem unvergleichlichen, wundersamen Aufstieg? Einem Aufstieg, der, wie wir heute wissen,  auch in die größtmögliche Katastrophe führen könnte? Was eigentlich  macht den Menschen von heute so einzigartig, so viel bedeutsamer als seine Mitgeschöpfe? Worin bestehen die grundlegenden Fähigkeiten und tief liegenden Besonderheiten, die seine Abgehobenheit ausmachen?  Ich versuche, hier einen neuen Zugang zu einem alten Thema zu finden und eine Teilantwort zu geben, indem ich die Sprachlichkeit des Menschen beleuchte, die ihn schon als Kind vor den Tieren auszeichnet. In ihr sehe ich eine Hauptursache für seine Sonderstellung. „Das Geheimnis der Menschwerdung und Sprachwerdung sind eins“,  meint Martin Buber. Der Blick auf das Werden der Sprache beim Kind könnte also helfen, unsere Sonderstellung im Reich des Lebens besser zu verstehen, die uns heute von so vielen strittig gemacht wird. Warum strittig? Zu ihrer Überraschung entdeckten Wissenschaftler, dass bei all der der riesigen Vielfalt von Flora und Fauna, bei all der überwältigenden Fülle der Erscheinungsformen des Lebens biochemische Funktionskreise und Grundstrukturen bis zum Menschen beharrlich und unverändert von der Evolution durchgereicht wurden. Alles Leben ist sich viel näher als bisher angenommen. Von daher gesehen ist der Mensch nichts Besonderes.

So halten uns heute auch die Schattenseiten des Menschen davon ab, ihn als Krone der Schöpfung zu rühmen. Es sollte besser heißen: der Mensch – das bisherige Spitzenprodukt der Schöpfung auf diesem Planeten. Damit setzen wir auf den Fortgang der Evolution und auf die fortschreitende Menschwerdung und Vergeistigung des sprachbegabten Menschen. Das dürfen wir hoffen, weil der Mensch mit jedem Kind neu anfängt. Nebenbei: Kindern zuzuhören und ihren Fortgang durch die Sprache zu beobachten ist ein ganz besonderer Liebesbeweis.

Was also an der Sprache sollte es sein, das uns letztlich unseren Mitgeschöpfen so  überlegen macht? Dazu müssen wir etwas ausholen.

Redegesellen

Der Mensch wird nur unter Menschen ein Mensch, heißt es. (Johann Gottlieb Fichte). Menschen sind Redegesellen und Sprache ist von Anfang an Zwiesprache, der Dialog kommt vor dem Monolog. Denn Sprache entsteht zwischen den Menschen.  Dort spielt sich unser Leben ab. Sprache ist eingebettet im Fühlen und Kommunizieren, Fähigkeiten, die das Leben schon vor dem Menschen entwickelt hat. Kommunikation ist uraltes Naturerbe, was uns heute in wunderbaren Tierfilmen nahegebracht wird. Unsere Lautsprache entwickelt sich also aus vorsprachlicher Verständigung. Die ist ganz-körperlich, gestisch, mimisch und natürlich auch stimmlich.

Der Mensch kann gar nicht nicht kommunizieren, dekretierte Paul Watzlawick. Denn das Nicht-Kommunizieren im Beisein anderer ist selbst schon ein kommunikativer Akt, der des Verweigerns. Beim Menschen ist das Bedürfnis nach komplexer Kommunikation und zugleich die angeborene Bereitschaft zur Sprache  so bestimmend, dass gehörlose Kinder, indem sie miteinander mimisch und gestisch kommunizieren, über wenige Generationen hinweg regelrechte, grammatisch organisierte Gebärdensprachen von selbst, auf sich gestellt, herausbilden. Das wurde u.a. in Nicaragua beobachtet. Taubblinde sind so schwer behindert, dass sie es von allein nicht schaffen. Aber auch sie sind wie wir so sehr auf Kommunikation angelegt, dass sie mit Hilfe von Zeichen, die ihnen in die Hand getastet werden,  kommunizieren lernen.

Sprache ist mithin von Mensch zu Mensch, und von Anfang an ist der Mensch des Menschen Lehrer. Nicht das Buch, nicht die Maschine, nicht das Fernsehen, nicht das Internet. Wenn wir genau hinsehen, ist da zuerst die Ansprache durch die Mutter, die aber sofort zur Zwiesprache, zur Wechselseitigkeit wird. Es ist, als ob das Baby geradezu darauf gewartet hätte, angesprochen zu werden, um dann darauf körperlich, stimmlich zu reagieren. Wir sind das Wesen mit dem sozialen Hirn, dem sozialen Talent, dem sozialen Sinn. Genau das macht uns so clever, weil wir wie kein anderes Wesen in überbordender Vielfalt und Komplexität miteinander kommunizieren und dabei lehren und lernen. Kinder lernen mitzufühlen, den andern verstehen und über den anderen auch sich selbst zu verstehen. Um noch einmal Martin Buber zu zitieren: „Der  Mensch wird am Du zum Ich.“  Er wird auf Unterschiede und Besonderheiten seiner Partner aufmerksam und wird erst so seiner selbst, seiner Eigenart gewahr. Der andere ist der Schlüssel zu unserem Selbstverständnis.

Ich gebe drei Beispiele für unsere emotional-kommunikative Intelligenz, die sich an und mit der Sprache entfaltet: Mein Enkel Milan, noch nicht ganz fünf, fliegt mit seinem Vater nach Argentinien. Da sagt er vor der Abreise aus Frankreich, wo sie leben: „Maman, tu me manques, et moi, je te manque.“ (Du fehlst mir und ich fehle dir). . »Mami, ich habe dich so lieb, weil du mich geboren hast«, sagt Theodor, noch nicht ganz sechs Jahre alt, in einer spontanen Gefühlsaufwallung. Ein Vater berichtet, wie er mit seinem Sohn kuschelt, bevor er einschläft. „Plötzlich höre ich ein leises Schluchzen. „Was ist denn passiert, Toni?“ Weinend antwortet er: „Papa, du bist so arm, weil du keinen Papa mehr hast.“  (ZEIT 29.5. 2019) So einfühlsam können Kinder sein. Das eben ist unsere soziale Begabung,  die in uns angelegt ist und entfaltet werden will. Gewiss:

Alles Leben kommuniziert.

Alles Leben tauscht Informationen aus.

Alles Leben ist mit anderem Leben verbunden. (Andreas Weber)

Aber erst mit der Sprache stößt dieses In -Verbindung-Sein in Dimensionen vor, die für tierisches und pflanzliches Leben unerreichbar bleiben.

Der Reichtum des Gefühlslebens, die Fülle und die Vielgestaltigkeit des Austausches sind exklusiv menschlich. Was können schon Vorschulkinder alles mit der Sprache machen! Sie können fragen und antworten, begründen, sich herausreden, schmeicheln, trösten, schimpfen, schmollen, spotten,  zürnen und zetern,  jemanden auslachen oder umstimmen, nachgeben, angreifen und abwehren, und besonders gut können sie jammern und betteln, meckern und nein sagen.

Hier sind einige Beispiele für frühe pragmatische Gewitztheit.  Zu welchem Raffinement schon Zweijährige fähig sind, zeigt z. B. die Formel dieses schöne, die Gerrit (2;2) gebraucht. Er verwendet sie keineswegs, um seine Bewunderung auszudrücken, sondern wenn er etwas haben möchte, von dem er weiß, dass er eigentlich noch nicht damit spielen soll. Er ist also schon in der Lage, einen Wunsch indirekt auszudrücken.

Ähnlich raffiniert geht meine Enkelin Olivia vor. Sie steht unten an der Treppe, will ganz offensichtlich nach draußen gehen und lockt die Mama hinunter mit „Maman bisou“ (Mama Küsschen geben). Heißt: Wenn  Mama schon einmal unten ist, um mir ein Küsschen zu geben, was sie ja so gern tut, dann geht sie bestimmt auch mit mir raus.

Oder sie ruft trotzig „Maman dodo“ (Mama schlafen gehen), wenn diese ihr etwas verbietet. Mama soll wohl den Mund halten, aber das kann sie noch nicht sagen. Dass manche autistische Kinder mit solchen indirekten Sprechakten nicht klarkommen, zeigt an, dass ihnen hier eine besondere kommunikative Leistung abverlangt wird. Es sind nicht die einzigen Schwierigkeiten, die viele Autisten mit der Sprache haben. Für mich ein klarer Hinweis, dass hier bestimmte genetische Impulse fehlen.

In einem Elternbericht aus dem Jahre 1907 heißt es:

Wird Bubi wegen einer Unart gescholten, versucht er recht schlau unsere Aufmerksamkeit von sich abzulenken, indem er plötzlich auf etwas zeigt: »Da, tickta. Oder:  Da, bau!« Hat man den Jungen durch einen leichten Schlag auf die Finger oder ein unfreundliches Wort oder durch Wegnahme eines als Spielzeug erwählten Gegenstandes beleidigt, so steht er erst mürrisch da, und auf alle Fragen antwortet er nur finster: »nein!« Dann ignoriert er unsere Anwesenheit vollständig, tut, als wären wir Luft und beginnt allein für sich zu spielen; begegnen sich zufällig unsere Blicke mit denen des Knaben, so dreht er uns sofort den Rücken zu: »Nein!«

Die Blickvermeidung, so meine ich,  und das Abstrafen durch Nichtbeachtung sind typisch. Hat er das Schmollen jemandem abgeguckt? Ich halte es für wahrscheinlich, dass es für dieses Verhalten eine genetische Grundlage gibt.

Vorschulkinder können Humor, teils auch schon Ironie. Sie beherrschen eine reiche Palette stimmlicher, melodisch markierter und  mimisch gestützter verbaler Ausdrucksmittel. Haben die Menschen nicht Jahrtausende gebraucht, um diesen kommunikativen Reichtum auszubilden, über den schon Vorschulkinder verfügen? Was davon können Tiere?  In Max Frischs Erzählung Montauk lese ich „Hat man schon zwei Hunde gesehen, die, wenn sie sich treffen, über einen dritten Hund reden, weil sie sonst nichts miteinander anfangen können?“  Zitatende. Sich unterhalten, mal darüber reden, können Tiere das, was uns selbstverständlich ist?

Bei genauer Betrachtung sind beide, Eltern und Kind, auf den Spracherwerb instinktmäßig vorbereitet, auf je eigene Weise. Beide tun – unbewusst – das Richtige. So ist Sprache genetisch doppelt abgesichert, von den Eltern her und vom Kinde her. Die Natur hat hier vorgesorgt. Eltern sprechen uns Sprache zu, wo noch keine ist.  Mit ihrer Liebe wecken sie die Liebe, wo noch keine war. Liebende Kommunikation, von den Eltern initiiert. So gesehen sind sie wichtigsten Personen im Leben eines Menschen. Unter ihrer Führung entwickeln sich Kinder zu im Tierreich einmaligen Künstlern der Kommunikation.

Wir sind „Resonanzwesen“, sagt ein Soziologe, und Kinder sind es von Anfang an und ganz besonders, sagen die Kindersprachforscher.

Wir fragen: Welche Wesenszüge der Sprache bewirken denn eigentlich, dass menschliche Kommunikation so  viel reicher, so ungemein gehaltvoller und so unendlich subtiler ist als alle tierische? Mit seiner Sprache ist der Mensch  mehr als nur Tier unter Tieren. Denn es gibt klare Alleinstellungsmerkmale der Menschensprache, die schon bei Kindern sichtbar werden. Die wollen wir in weiteren Vorträgen herausarbeiten.

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