Die bilinguale Option. GMF-Kongress Nürnberg 2016

Die bilinguale Option.
Zum Paradigmenwechsel in der Fremdsprachendidaktik.
(Plenarvortrag GMF Kongress Nürnberg 1.10.2016, W. Butzkamm)

Irgendwann war es dann so weit: Man hat das Kind mit dem Badewasser ausgeschüttet. Das kann zu so etwas wie unterlassener  Hilfeleistung führen.

Denn Folgendes ist unabweisbar: (1) Zu allererst haben wir –  noch vor der Muttersprache, dann aber bald in ihr, mit ihr  und durch sie – kommunizieren gelernt. Wir sind gesellige Wesen. Sprache entsteht zwischen den Menschen. Das ist der Ursprung. (2) Kommunizierend  haben wir unser Denken fortentwickelt und die Welt auf den Begriff gebracht; (3) Kommunizierend  haben wir unsere Stimme entwickelt und artikulieren gelernt; (4) Kommunizierend haben wir eine grammatische Grundordnung und das Prinzip der Sprachkombinatorik intuitiv zu erfassen gelernt; (5) wir haben – nicht immer, aber sehr oft –  die sekundären Fertigkeiten des Lesens und Schreibens erlernt. Das ist die fünffache Mitgift der Muttersprache.

Dieses Geprägt- und Schon- Informiertsein, d.h. die umgreifende, in der Erstsprache heranreifende Sprachlichkeit des Menschen, ist das Fundament unserer Selbstwerdung  und der größte Aktivposten des Fremdsprachenlerners. Die Muttersprache (einschließlich anderer, wie Muttersprachen früh erworbener Sprachen) ist das Instrument zur Erschließung fremder Sprachen, ihrer Bedeutungen, ihrer grammatischen Formen und Funktionen, der Dechiffrierschlüssel, der den schnellsten, den sichersten, den genauesten und vollständigsten Zugang zur Fremdsprache bildet –  bis diese sich zunehmend selbst weiterbauen kann.

Wenn es nun stimmt, dass man eine Fremdsprache immer auf der Grundlage dieses Schon-Informiertseins, also auf dem Boden einer erworbenen, natürlich gewachsenen Sprache erwirbt, stellt sich eben nicht nur die Frage, die der mainstream hauptsächlich verfolgt, nämlich die Frage:

  • Wie kann ich möglichst viel Zeit für die Fremdsprache nutzen?

Es stellt sich noch eine zweite Frage:

  • Wie kann man optimal an diese Grundlagen anknüpfen und erworbene Fähigkeiten und Fertigkeiten für die Fremdsprache fruchtbar machen?

Beide Fragen: Wie wird die Fremdsprache zur Arbeitssprache? Und: Wie kann ich das vorhandene, muttersprachlich verquickte kognitive Potenzial ausreizen, statt es zu ignorieren?  – sehe ich als gleich berechtigt. Der Paradigmenwechsel, den ich anstrebe, bedeutet, auf den Punkt gebracht, dass nunmehr auch die zweite Frage der Anbindung ernsthaft gestellt wird, und die Muttersprache nicht wie bisher nur als Störfaktor, allenfalls als Nothelfer und Feuerwehr, sondern als Geburtshelfer der Fremdsprache gesehen wird.

„Der Mensch knüpft immer an Vorhandenes an“, wusste schon Humboldt. Ich verweise auf das sozialpsychologische Konzept der Pfadabhängigkeit.  Das etablierte System ist hier die Muttersprache. Änderungen, Erweiterungen, Korrekturen müssen hier andocken.

Paradoxerweise gelingt es am besten, die Fremdsprache  als Mittel und Medium des Unterrichts zu etablieren, wenn wir systematisch, aber gezielt und genau dosiert die Muttersprache zu Hilfe nehmen. Das ist das Muttersprachenparadox.

Dialogarbeit – die Sandwichtechnik

Wie wichtig die muttersprachliche Starthilfe ist,  wird sonnenklar und ganz unabweisbar, wenn wir es (1) nicht mit den üblichen Schulfremdsprachen zu tun haben, sondern mit wirklich fremden, sperrigen Sprachen aus anderen Kulturkreisen und (2)  direkt zum Hauptgeschäft der Sprache kommen. Das aber ist nicht das Einzelwort, sind nicht Farbwörter, Tiernamen usw., sondern das „gesellige Wechselgespräch“ (Humbodt), die Rede und Gegenrede, die ein Gegenüber, einen Partner verlangt. Da schlägt das Herz der Sprache, im Dialog. Wenn’s aber um Äußerungen statt ums bloße Benennen geht, versagen die Bilder und Einzelwörter. „Utterances, not words, are the primary reality of language.”

So lautet meine erste praktische  Empfehlung, am Anfang ständig Sprache zu inszenieren und dabei das Gesagte ohne Scheu und ohne schlechtes Gewissen muttersprachlich abzuklären, als ob es das Natürlichste von der Welt sei. Ist es ja auch.  Kleine Stückchen einstudieren, zumal alle unsere Schüler schon als Kleinkinder kommunikativ kompetent werden und von Kindheit an eine emotional-kommunikative Intelligenz für Rede und Gegenrede entwickeln.

Wir erarbeiten kurze, anregende, reizvolle Stückchen zunächst mit dem Ziel, dass alle Schüler sie am Ende frei und natürlich sprechen und spielen können.

Der Anfang ist Vorsprechen und Nachsprechen mit der bilingualen, schriftgestützten Sandwich-Technik. Das sieht, etwas verkürzt, so aus:

Teacher:
Be careful.
Sei schön vorsichtig.
Be careful. (jetzt Signal zum Nachsprechen)

This girl is driving us crazy.
Dieses Mädchen macht uns noch wahnsinnig.
This girl is driving us crazy. (Jetzt Signal zum Nachsprechen)

Also das passsende, sprechübliche, idiomatische  muttersprachliche Mitteilungsäquivalent dazwischenpacken.

Warum ist diese Art der Semantisierung so effektiv?  2 Antworten:

1. Weil beide Äußerungen, Original und Übersetzung, ein vollgültiges Sprachereignis darstellen:  Alles ist da: Stimme + Satzmelodie + Rhythmus + Mimik + Gestik. Auch die deutschen Modalpartikel wie noch, denn, mal usw.:

Can you read this please?
Kannst du das mal lesen?

Das ist meilenweit von der Vokabelgleichung entfernt. Damit sind die Schüler sofort im Text voll drin.

2. Der zweite Vorteil ist:

Mentale Ressourcen werden frei für die Konzentration aufs Nachsprechen: Das fällt schwer, das ist bei bestimmten Sprachen oft grauenhaft anstrengend, aber das muss der Schüler selbst leisten, das können wir ihm nicht abnehmen. Also: Entlastung von der Sinnerschließung.  Und wir brauchen diese Entlastung, wenn uns die Zunge nicht gehorcht.  Es dauert, bis die Wörter ganz von selber über die Lippen gehen. Denn die fremde Sprache  hat ja dieses Zungenbrecherische an sich. Wir haben Angst, wir könnten uns lächerlich machen. Ein Gesichtsverlust droht. Da ist es gut, wenn wir die Situation entlasten und zugleich vorhandene Stärken ins Spiel bringen können, nämlich unser Menschen- und unser Weltverständnis, eben unsere kommunikative Kompetenz.

So gesehen, hilft die Muttersprache durchaus mit, eine gute Aussprache zu erwerben.

Nachsprechen ist die Grundtechnik beim Spracherwerb – das ist ebenso banal wie fundamental. Es geht um die Direktverschaltung von Hören und Sprechen. Da haben meine Migranten einen Deutschkurs mitgemacht und können nicht mal flüssig sagen „Ich möchte zu Herrn Sowieso“ oder „Wann bekomme ich einen Termin bitte?“ „Können Sie das für mich aufschreiben?“ Wenn solche Sätze weder mehrfach nachgesprochen noch ausgespielt werden.

Positive Nebeneffekte des bilingualen Ansatzes

Zu den positiven Nebeneffekten des bilingualen Ansatzes gehört es, dass  authentische Texte früher verfügbar werden. So habe ich mit einer vierten Klasse Lieder wie Yesterday und We are the world gesungen. Auch die Zeitgeschichte kann einfließen. So habe ich meiner 4. Klasse im Sommer 2015 die Geschichte von Bangaly aus Westafrika erzählt, was ohne muttersprachliche Mithilfe  gar nicht geklappt hätte.

“In many countries poor people have little rights. There are civil wars (Bürgerkriege, Kriege unter Zivilisten). People get killed. So they flee. Sie flüchten. They flee. They become refugees (Flüchtlinge), refugees, or migrants, like Bangaly. Migrants, immigrants, emigrants. We use these words in German, too…“

Und so ging es dann weiter: die Flucht durch die Wüste (the desert), die Hilfe der Schleuser (people smugglers) bis hin zu uns…

Der Witz: man schlägt drei Fliegen mit einer Klappe: Man lernt Englisch, aber auch Deutsch und ein Stück Zeitgeschichte. So musste ich das Wort Zivilisten erklären bzw. erklären lassen, den Unterschied zwischen Emigranten und Immigranten,  und was überhaupt Asyl ist. Natürlich  kannten sie auch nicht das Wort people smugglers, kurioserweise auch nicht das deutsche Schlepper. Usw.

Einwand: Erfolgreiche Einsprachigkeit?

Wie kommt es aber, dass viele Kinder und Jugendliche in unseren Kitas und Schulen offensichtlich ohne muttersprachliche Mithilfe ganz passabel Deutsch lernen? Antwort:

1. Die Masse macht’s. Die Masse sinnfälliger Sprachkontakte.  Sie hören hundertmal dieselben Sätze  oder leicht veränderte Sätze in denselben oder leicht veränderten Situationen, die sie immer besser durchschauen.  Zum Glück  verstehen sie oft schon den Sprecher, auch wenn sie den Wortlaut noch nicht verstehen. Das aber geht nur über massenhafte Sprachkontakte in Lebenssituationen, die Licht ins sprachliche Dunkel bringen. Wir sind statistische Lerner. Dazu brauchen wir big data. Viele Wiederholungen und  weitere Verknüpfungen mit Vorhandenem sind angesagt. So vollzieht sich täglich vor unseren Augen das Wunder des Spracherwerbs. Der Sprachunterricht als solcher kann das nicht leisten.

2. Der bilinguale Ansatz ist durch solch schöne Erfolge, wie ich sie bei jungen Syrern erlebe,  auch deshalb nicht entkräftet, weil die Einsprachigkeit nur eine äußere, vermeintliche, aber keine innere, psychologische ist.

Wir lernen neue Ausdrucksweisen, die wir aber an bekannte Begriffe hängen, die ihrerseits schon mit muttersprachlichen Ausdrücken eng verbunden sind. Da sind stark befahrene neuronale Datenautobahnen entstanden. Aus den Trampelpfaden der Kleinkinder werden Autobahnen. Nur weil wir schon ohne Weiteres übers Wetter sprechen können, können wir es auch auf Englisch oder Chinesisch versuchen. Wir tragen diesen Alltagsverstand, unsere Lebensbegriffe und unsere kommunikative Kompetenz in die Fremdsprache hinein. Wir können gar nicht anders. Die Verbindungen laufen automatisch. Reine Fremdsprachigkeit ist anfangs eine innere Unmöglichkeit.

Damit ist die Frage: Warum bilingual, wenn es auch ohne Muttersprache geht? erledigt.

Migranten

Ich berichte aus unserer Arbeit mit erwachsenen Migranten, aus Syrien, Kamerun, Ghana, Eritrea, Somalia, Iran, Afghanistan, Ost-Turkestan, die wir in Kleinstgruppen unterrichten, oft eins-zu-eins. Die Sandwichtechnik ist meist nicht möglich. Also geht es oft  nur direkt auf Deutsch, und wir benutzen dabei die Bücher, die aus der ehrenamtlichen Arbeit mit Flüchtlingen entstanden sind. Dazu gehören der Deutschkurs für Asylbewerber nach dem sog. Thannhauser Modell, und die Bücher der Flüchtlingshilfe München.

Und dann, o Wunder, nachdem diese Bücher einige Monate im Umlauf sind, erscheinen  dieselben Bücher zweisprachig. Selbst bei diesen, auf German only angelegten Heften, läuft es anscheinend besser, wenn zu jedem Wort und zu jedem Satz ein arabischer  Untertitel dazu kommt.  So haben die Münchener neben Arabisch ihr Heft nunmehr auch mit Untertiteln in Tigrinisch herausgebracht und  in Twi, eine von mehreren Verkehrssprachen Ghanas, in Farsi, Dari, Somali, Urdu.  Was die Großverlage jahrzehntelang versäumt haben, plötzlich ist es da. Die praktische Vernunft hat gesiegt. Die Berücksichtigung der jeweiligen Muttersprache ist außerdem die wirksamste Form der oft geforderten Individualisierung des Unterrichts. Jemanden bei seinem Denken u. Sprechen abzuholen ist doch die wahrste Form der Individualisierung, abgesehen davon, dass man Flüchtlingen damit auch ein Stück Heimat bietet.

Hingegen ist der Alles-auf- Deutsch Ansatz  des BAMF und anderer Sprachlehrinstitute längst nicht mehr eine Notwendigkeit, sondern oft nur eine Gedankenlosigkeit, die sich auch noch als Methode ausgibt und das  Deutschlernen massiv erschwert.

Besonders mit den zweisprachigen Büchern des kleinen Goethe Verlags (nicht des GI), die unter dem Namen books in two languages bekannt geworden sind, kann man Schüler mit verschiedenen Muttersprachen zugleich unterrichten.  Das geht, weil dieselben deutschen Texte in vielen Übersetzungen vorliegen. So kann es sein, dass in einem Deutschkurs für Zuwanderer alle denselben deutschen Lehrtext in ihrer Muttersprache vorliegen haben, oder auch in einer Brückensprache wie Englisch und Französisch.

Das ist ein unschätzbarer Vorteil, den bisher  nach meinen Kenntnissen  kein einziges Lehrsystem aufweist.  Wir bringen die Herkunftssprachen als Starthilfen mit ein. Was man vor- und nachsprechen lässt, wird sofort verstanden. Vorbei der Frust des Nicht- oder Halbverstehens. Vorbei das hastige Nachschlagen in Wörterbüchern während des Unterrichts.

Aber es kommt noch etwas Entscheidendes dazu. Die muttersprachliche Zuordnung Zeile für Zeile sowie die Anordnung der Sätze im Dreierpack erschließen nicht nur den Inhalt, sondern oft auch schon die Bauform des fremden Satzes bzw. einen Teil davon.  Wir wissen sofort, was gemeint ist, zugleich sehen wir oft auch schon, wie’s gesagt ist. Dieses bilinguale Arrangement erfüllt mithin die Grundbedingung des Spracherwerbs: das Doppelverstehen.  Notwendige  und zugleich hinreichende Grundbedingung des Spracherwerbs ist ein zweifaches Verstehen.  Das ist mein Kernsatz:  „Sprachen lernt man, wenn sie uns  – dem Sinn und der Form nach – verständlich zugesprochen werden“.

Hier sind Beispiele aus Book2, Lektion 19, „In der Küche“:

Finnisch:
Soll ich die Zwiebeln schneiden?  Leikkaanko minä sipulit?
Soll ich die Kartoffeln schälen?  Kuorinko minä perunat?
Soll ich den Salat waschen?  Pesenkö minä salaatin?

Das letzte Wort, das für Salat ist the give-away, das Packende, der Zipfel, den wir ergreifen, um den Schleier über der Struktur zu lüften. Unsere Fähigkeit zum analogischen Schließen kommt ins Spiel. „Salat“ kommt ans Ende, also wohl auch Kartoffeln und Zwiebeln, und somit haben wir schon einen Teil der Bauform der Sprache, ihrer Architektur,  verstanden.

Nehmen wir die nächste Gruppe und schauen wir sie uns auf Arabisch an:

Wo sind die Gläser?  Ayna al-kibayat?
Wo ist das Geschirr?  Ayna as-sohoon?
Wo ist das Besteck?   Ayna el-malaaek w-el-sakakiin?

Das ist schon ziemlich eindeutig. Die Dreiergruppierung und die Zeile für Zeile Zuordnung  bei der Übersetzung sind ein hervorragendes Mittel, den fremden Satzbau mehr oder weniger durchschaubar zu machen. Das ist gut gedacht und gut gemacht.

Im Arabischen heißt es einfach: Wo die Gläser? Wo das Geschirr? Wo das Besteck? (Genauer: Wo die Löffel und die Messer?) Und wir schließen analog: Ayna al-metro? *Wo die U-Bahn?  Ayna al-mahatta?  *Wo der Bahnhof? Ayna at-tuwalit?    *Wo die Toilette? Ist also die Bauform erkannt, geht‘s erst richtig los: Wo die Kirche, wo die Zeitung, wo meine Frau, wo die Freude, wo der Schmerz…Das ist die wundersame Sprachvermehrung, das Geheimnis des Spracherwerbs.

Mit diesem bilingualen Arrangement knüpft book2 an eine lange abendländische Tradition des Sprachenlehrens  an, u.a. auch an Comenius, die zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist. Es ist eine Tradition, wo die Sprachmeister allerdings nicht mit dem Dreierpack, sondern meist durch eine Doppelübersetzung, d.h. eine normale, richtige,  und eine wörtliche, für das Doppelverstehen sorgten.

Wie tief uns dieses doppelte Verstehen in eine fremde Sprache hineinführt, machen wir uns am Arabischen klar:

Arabisch                                           normal übersetzt                       wörtlich übersetzt

Ismi  Nedal.Hiya fi beituna.Lazim adrusu al-arabiya.Uridu an akulu shai’an. Ich heiße Nedal.Sie ist zu Hause.Ich muss Arabisch lernen.Ich möchte etwas essen. Name-mein Nedal.Sie in Haus-unser.Nötig ich-lerne das-Arabische.Ich möchte dass ich esse etwas.

Wir könnten jetzt weitere  Ich muss und ich möchte Sätze nach gleichem Muster riskieren.

In Grammatiken findet sich die Regel:  “If there is no question word in the direct question, we use if or whether in the indirect question.”  Für manche Schüler ist solch Regelwissen eher Kauderwelsch, während eine schlichte Übersetzung den Sachverhalt auf  Anhieb klärt:

English                                             German                                          French

He wants to know if … Er will wissen, ob… Il veut savoir si…

Für das Chinesische brauchen wir zusätzlich eine wörtliche Übersetzung:

He wants to know if she is at home. Tā xiǎng zhīdào, tā shìfǒu zài jiā他想知道, 她是否在家 *He wants to know she yes-no is at home.

Ist es nicht wunderbar, wie einem die Logik des Chinesischen einleuchtet und einem damit die Struktur gleichsam in den Schoß fällt? Wir können  jetzt weitere Ob-Sätze riskieren. Ja, zum Sprachenlernen gehört das Riskieren von Noch-nie-Gehörtem. Ich weiß nicht, ob sie mich liebt. Wie sagt man das in Mandarin? Annäherungsweise: *Ich weiß nicht, sie ja-nein liebt mich.

Wie weit nun diese Analogie trägt, weiß man zunächst nicht, man muss es ausprobieren, so wie die Kinder es bei der Muttersprache tun. Ihre  Übergeneralisierungen sind ein untrügliches Zeugnis dafür.

Wir brauchen nur über den Tellerrand der üblichen Schulfremdsprachen hinweg schauen, um die klärende Kraft, die Potenz dieser bilingualen Technik zu erkennen, wo Übersetzung plus muttersprachliche Spiegelung ungewöhnliche Konstruktionen oft schon mit einem Schlag durchschaubar machen.  Ich gebe noch ein schlichtes Beispiel:

See you tomorrow.     Verstehe ich die Äußerung, solange ich sie nur mündlich habe, als „Bis morgen“, nicht aber auch den Wortlaut,  kann ich analog sagen: see you on Monday,

see you next week… Verstehe ich aber zusätzlich, wie die Bedeutungskomponenten zusammenwirken, also *seh euch morgen, kann ich auch Ortsbestimmungen riskieren:

See you at the party. See you at the gym. See you at the club.

Jetzt können sie den Satzgenerator ankurbeln. In Wilhelm von Humboldts berühmten Worten: Lerner können, ja müssen „von endlichen Mitteln unendlichen Gebrauch“ machen. Genau das aber ist nach Chomsky und Steven Pinker (1997, S.118) „the quintessential property of all human languages“, das kombinatorische Prinzip.

Mein Paradebeispiel für dieses herausragende Kennzeichen der Menschensprache liefert der dreijährige Peter. Er  nutzt genau dieses kombinatorische  / generative Prinzip auf unverwechselbar eigene Weise, wenn er sich wie folgt zu helfen weiß, dort, wo ihm die genauen Bezeichnungen fehlen:

„das Zu-Drehen, das Zu-Dranmachen, das Zu-Schmeissen, das Zu-Bouillon-Reintun…“

Auf diese Weise machen wir alle von endlichen Mitteln unendlichen Gebrauch und bauen unsere Sprache aus. Ich zitiere aus Georg Stefan Troller, Selbstbeschreibung (München 1991, S. 124). Er ist 1942 nach Marseille geflüchtet. Verzweifelt versucht er, im amerikanischen Konsulat ein Visum für die USA zu bekommen:  „Grad das amerikanische Visum, das lässt sich nicht erfinden und nicht erfälschen…das lässt sich nur erknien.“   Sich etwas erknien: Eine legitime analoge Neubildung, die man in keinem Wörterbuch findet, die man jedoch auf Anhieb bilden kann und auf Anhieb versteht. So geht Sprache.

Problemverleugnung – anekdotische Evidenz

Wie wirkt sich der Alles-auf-Deutsch Ansatz in der Praxis aus? Ich kenne keine großanlegten Befragungen von Absolventen der Integrationskurse. So biete ich Ihnen stichprobenhaft und ohne jeden wissenschaftlichen Anspruch einige Stellungnahmen aus meinem persönlichen Umkreis.

Frau K., Russlanddeutsche, Integrationskurs / Deutschkurs der VHS 1995: „Ich habe oft nichts verstanden. Neben mir saß eine Frau, die war auch Deutschrussin, die hat manchmal gesagt, ‘die (Lehrerin) hat das, das, das gesagt, aber Entschuldigung, wenn ich das (für Sie) übersetze, dann verpass ich, was die weiter sagt‘… Wenn alles auf Deutsch und man versteht überhaupt nicht, was man sagt, z.B. wenn Sie jetzt, Herr Butzkamm, auf Englisch zu mir sagen, egal was, ich verstehe kein Wort,  auf Englisch, und das war genauso mit Deutsch.“

Sh., aus Ost-Turkestan, berichtet, im Kurs habe der Lehrer nur Deutsch gesprochen. Aber in der Pause kamen die Teilnehmer  zum Lehrer und fragten ihn auf Englisch nach englischen Übersetzungen. Mit anderen Worten: Der Lehrer befolgt die offizielle Weisung: Alles auf Deutsch, ist aber in der Pause bereit, davon abzuweichen. Kurios.

Ahmad N., Syrer, Integrationskurs der VHS 2015: „ Some teachers speak slowly and they understand that you don’t understand. And they try to explain things by movements, by acting, to help you, and they try to use simple words… They explain in Deutsch the pictures and sometimes it’s not enough. There are a lot of things I don’t understand during the course, and I depend on my friend for advice and to explain to me many, many things …

Mohammad, Student aus Damaskus, sehr fleißig und sprachbegabt: “Die Situation in der erste Sprachkurs (… )war nicht sehr gut, weil die Lehrerin spricht immer Deutsch und das war ja, schnell, nicht langsam Deutsch. Und wir verstehen nicht alle  und wir immer fragen, in Englisch zu sehen. Aber sie spricht nur ungerne Englisch, sie erklärt in Deutsch aber das war nicht sehr gut und das war sehr üblich zu schreiben auf einen Papier und zu Hause übersetzen oder zu fragen mein Nachbar.”

Zusammengefasst berichtet er mir: Es ist im Normalkurs verboten, ein Wörterbuch zu benutzen. So sage sein Freund. In seinem Schnellkurs aber erlauben es alle drei Lehrer. Eine Lehrerin, sie ist Russin (“sie hat in Russland gebort”), übersetzt für eine, die auch Russisch spricht. „Manchmal übersetze ich in Umgangsarabisch für meine Freunde, das ist besser als Hocharabisch.“

Das ist das bilinguale Helferprinzip. Die Syrer in seiner Gruppe halten zusammen. Einer sagt ein Wort, und andere, die’s wissen, sagen das arabische Wort oder rufen sich das englische Wort zu.  Dazu benutzt Nedal aus Aleppo die Google Übersetzer App auf seinem smartphone. Mit dem Kopfhörer in einem Ohr hört er die Übersetzung ab, mit dem freien Ohr folgt er weiter dem Unterricht.

Mensur ist in seinem Kurs (2016) der einzige Eritreer. Auch er benutzt ein elektronisches Wörterbuch im Unterricht, das aber keine Übersetzungen in seiner Muttersprache Tigrinisch liefert. Er schlägt dann englische, zuweilen auch arabische und amharische Übersetzungen (eine Nachbarsprache des Tigrinischen) nach. Nach dem Unterricht, z.B. im Bus, sieht er sich noch einmal die nachgeschlagenen Wörter an, die sein Wörterbuch gespeichert hat.

Mohammad erzählt mir auch, dass er die Meisterdetektiv- Conan- Serie, die er als Kind geliebt hat, nunmehr auf Deutsch sieht, um sein Deutsch zu verbessern. Auch das ist ein bilingualer Ansatz, den ich in dieser Form auch von meinen Studenten kenne, die z.B. Asterix-Hefte, die sie auf Deutsch kennen, noch mal auf Französisch lesen.

Einige wissen sich zu helfen, andere scheitern, und das ist jammerschade. Sie scheitern nicht zuletzt an einer antiquierten, rigiden  Methodik, die verkennt, dass die Muttersprachen ein unschätzbares Kapital sind, das es einzusetzen gilt, wo immer es möglich ist.  Ich konstatiere eine schlichte Problemverleugnung. Das Goethe-Institut München schreibt mir: „Alle unsere Kurse (im In- und Ausland) finden einsprachig auf Deutsch statt.“ (11.11.2014). Universitäre Sprachlehrzentren, die ich kenne, verfahren leider genauso.  Die Muttersprache wird ignoriert.

G. Hall & G. Cook kommen zu dem Schluss: „The way is open for a major paradigm shift in language teaching and learning“ (state-of- the-art article „Own language use in language teaching and learning“  in Language Teaching, 45/2012,  pp 271-308).  In diesem Sinne meine Forderung: §10 der Integrationskursverordnung des BAMF „Der Integrationskurs…findet in Deutsch statt“ sollte wie folgt ergänzt werden: „ Jedoch sollten die Herkunftssprachen auch in sprachlich gemischten Klassen methodisch einbezogen werden.“  In § 14 ist ersatzlos zu streichen: „Die Kursgruppe soll möglichst Teilnehmer mit unterschiedlichen Muttersprachen umfassen.“

Schluss

“Die Kinder würden die Sprache nicht lernen, wenn sie nicht schon eine Sprache hätten”, schreibt Jean Paul, ein Zeitgenosse Goethes, „die Muttersprache hieße richtiger die ‚Sprach-Mutter‘ “.  Sie ist in der Tat die unbefragte Voraussetzung allen Unterrichts. Die Naturmethode ist anfangs zweisprachig, sollte aber in eine weitgehende Einsprachigkeit münden.

Denn sind entsprechende Fortschritte gemacht, wird das, was man Immersion nennt, zum Hauptweg: Soviel wie möglich fremdsprachige Kontakte suchen und versuchen, Situationen, so gut’s geht, auch fremdsprachig zu bewältigen. Schon Dodson schrieb ja, sein bilingualer Ansatz sei „self-destructive“, er hebe sich auf längere Sicht, bei wachsendem Können, von selbst auf.

Es ist jetzt viel Elend auf der Welt. So viele Menschen sind auf der Flucht und kommen dabei auch zu uns. Noch nie hat es in unserem Land eine solche Sprachenvielfalt – man könnte auch sagen: ein solches Sprachengewirr – gegeben. „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“  Unsere digitalisierte Welt bietet Chancen, u.a. mit Hilfe der Netzgemeinde, dieses Problem mit einem bilingualen Ansatz zu entschärfen. Nutzen wir die Chance.

Kristallklare Grammatik. Techniken des zielgenauen Einsatzes der Muttersprache (Uni Köln 2006)

(Auszüge)

[…] Die grammatische Mitgift der Muttersprache ist vierfach auszunutzen.

1.  Durch Parallelbeispiele. Grammatik vergleichend, von der Muttersprache her, heißt, nach Beispielen suchen, bei denen es die Muttersprache genauso macht wie die Fremdsprache. Auf diese Weise wird die Fremdsprache Teil des Sprachgepäcks, das wir schon mit uns führen.:

Richtig anfangen! Kompetenzorientierung im elementaren FU. Plenarvortrag GMF-Kongress Essen 2012

http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-31308/Plenarvortrag_Wolfgang_Butzkamm_KAMERA.rm

http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-31308/Plenarvortrag_Wolfgang_Butzkamm_SCREEN.rm

Vortrag kurzgefasst: Zentrale Techniken der Text- und Grammatikarbeit sind in ihren psycholinguistischen Grundlagen nach wie vor nur unzureichend geklärt und theoretisch abgesichert. So werden im Kernbereich des Unterrichts Irrtümer fortgeschleppt und Lücken nicht aufgearbeitet, die sich besonders beim Einstieg in die Fremdsprache bemerkbar machen, mit nicht mehr zu übersehenden Folgen für lernschwache und wenig motivierte Schüler, die schnell aufgeben. Richtig anfangen und kompetenzorientiert arbeiten betrifft die gezielte Mitwirkung der Muttersprache (u.a. in der Weise der Sandwichtechnik), betrifft weiterhin den Einsatz des Schriftbilds nach Art des Mitlesverfahrens und das Ausreizen produktiver Satzmuster, indem wir „von endlichen Mitteln unendlichen Gebrauch machen“ (Humboldt).  Das ist das generative Prinzip, das dem allseits akzeptierten kommunikativen Prinzip  an die Seite zu stellen wäre. Der Vortrag konzentriert sich auf bilinguale Strukturübungen, d.h. auf die methodische Umsetzung dieses Prinzips.

Richtig anfangen…? Ja, machen wir denn da etwas mehrheitlich falsch? Muss da etwas korrigiert werden? Im  Untertitel zur  dritten Auflage meiner Methodik  heißt es gar: Fremdsprachen anders unterrichten. Anders unterrichten – ist das nicht eine Anmaßung? Ist nicht der bilinguale Sachfachunterricht eine echte Erfolgsstory? Sind wir nicht  medientechnisch auf der Höhe der Zeit? Ist der Unterricht nicht schon längst bunt und vielseitig genug geworden? Sind nicht viele Anregungen aus der humanisti­schen Psychologie inzwischen Teil des Hauptstroms? Ist der Unterricht nicht in Bewegung gekommen, im wahrsten Sinne des Wortes? TPR, Raps, Entspannungsübungen, Projekttage, Fantasiereisen, Simulationen, Dra­mapädagogik, Lern- und Gesellschaftsspiele aller Art, Quizshows und Debattierclubs haben Einzug gehalten. Auch Partnerarbeit – für Fremdsprachen enorm wichtig – und “Lernen durch Lehren” sind in den Schulen angekommen. Und noch immer schaffen es Lehrer, ihre Schüler für Shakespeare zu begeistern.

Soll das etwa anders werden?

Natürlich nicht. Aber gerade am Anfang – sei’s Spanisch in der VHS oder Englisch in der Grundschule –  bleibt manches oft Patchwork-Methodik, weil ohne solides psycholinguistisches Fundament. Unser Wissen über den Spracherwerb ist in unseren Lehrwerken noch nicht optimal umgesetzt, und die im Schüler bereitliegenden Sprachlernfähigkeiten werden nicht optimal angesprochen, mit z.T.  verheerenden Folgen für lernschwache und wenig motivierte Schüler, die schnell aufgeben.

Nehmen wir als Vertreter des Mainstreams das Buch Englisch in der Grundschule, eine Fundgrube für einen facettenreichen, motivierenden Unterricht (Klip­pel 2000). Aber es heißt da: Die Lehrerin kann “– als letzte Möglichkeit – ins Deutsche übersetzen”. Und: “Übersetzt wird aus der Not, wenn andere Mit­tel der Bedeutungsvermittlung versagen” (Klippel 2000, 22, 37). Die Mutter­sprache für den Notfall? Ich sehe das radikal anders: Die Mutter­sprache liefert ganz unbestreitbar die kognitiven Grundvoraussetzungen für weiteres Sprachenlernen, sie ist der Boden unter unseren Füßen und in der Praxis auch das biegsamste, schmiegsamste, schnellste und genaueste Mittel der Bedeutungs- und Grammatikvermittlung. Es ist ein Riesenunterschied, ob man etwas als Nothelfer zulässt oder als Kapital ansieht, das man einsetzt und für sich arbeiten lässt. In einem Fall ist es die Ausnahme, im anderen die Regel. Ich möchte Ihnen heute zeigen, um welche Chancen der Grammatikvermittlung sich Leh­rer bringen, die bilinguale Arbeitsformen nicht mitverwenden. Denn mit ihnen vertreiben wir das Schreckgespenst der Gram­matik, das manchen Schülern die Lust an der Sprache verdirbt. Denn Grammatik von der Muttersprache her ist Grammatik vom Schüler her. Die eigentliche Anmaßung ist doch die, eine zweitausendjährige abendländische bilinguale Lehrtradition zu verwerfen und sprach­wissenschaftliche Grundsatzpositionen (für die ich Humboldt reklamiere) außer Acht zu lassen, ohne neue tragfähige Theorie und empirische Absicherung.

Das muss anders werden. Und noch etwas: Die Fremdsprachendidaktik setzt seit Jahrzehnten alles auf die Karte der Kommunikation und der Handlungsorientierung. Enorm wichtig, aber muss man darüber aus den Augen verlieren, dass unsere Sprachen, wie schon Humboldt gesehen hat, kombinatorische Systeme sind, die immer neue Kombinationen erzeugen? Das ist ein Wesenszug aller Men­schensprachen, im Gegensatz zu Tiersprachen. Dank der Kombinatorik werden uns neue Sätze und damit eben auch neue Ideen nie ausgehen. Denn Satzvariationen sind auch Sinnvariationen. Das ist entscheidend, und zwar nicht nur didaktisch entscheidend. So wird  Grammatik zum Schwungrad des Denkens: Gott schuf den Menschen. Schuf Gott den Menschen? Der Mensch schuf Gott. Wie bitte? Der Mensch schuf Gott? Ja, geht auch, nicht wahr?

Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Der Mensch sei dem Menschen ein Mensch. Die Grammatik erlaubt’s. Ebenso: Der Hund wackelt mit dem Schwanz. Der Schwanz wackelt mit dem Hund, etwa wenn Herr Rösler Frau Merkel vorschreibt, wen sie als nächsten Bundespräsidenten vorschlagen soll. Hier gilt es ein Potential richtig auszureizen, das schon in der Sprache und im Sprachlerner steckt. Spracherwerb ist eben auch Strukturerwerb. Das übersehene generative Prinzip der unendlichen Satz- und Gedankenvermehrung (Humboldt) –  noch mal: Satz- und Gedankenvermehrung –  wäre dem all­seits akzeptierten kommunikativen Prinzip an die Seite zu stellen.

Und ein Drittes muss anders werden: Für Schüler, die schon lesen und schreiben können, also ab drittem Schuljahr, sind neue Texte,  Basistexte  wie Dialoge und Lieder, die viel Neues bringen, zugleich mit dem Schriftbild einzuüben, nach Art des Mitlesverfahrens.  Es heisst aber, das Schriftbild soll generell erst dann auftauchen, wenn das neu Eingeführte schon lautrichtig gefestigt ist. Das mag bei Einzelwörtern in einer Erzählphase völlig richtig sein, in anderen Fällen aber ist das Mitlesverfahren effektiver. Ich werde  diesen Punkt nicht weiter ausführen und mich auf die beiden anderen psycholinguistisch grundierten Kernbotschaften konzentrieren. Ihre Beachtung hat weitreichende Folgen. Denn bei gezielter Mithilfe der Muttersprache (oder anderer, schon vorhandener Sprachen) gelingt es eher, Satzvariationen als Sinnvariationen aufzufassen, ja es kann uns die fremde Sprache auf Anhieb  vertraut wer­den – ein Effekt, der besonders bei ferner liegenden Sprachen offenkundig wird. Sprachen wie das Chinesische werden aber in unseren Schulen bald mehr Platz bekommen.

Ich möchte nun etwas theoretisch vorab klären, bevor ich eine konkrete bilinguale Arbeitsform vorstelle, eine von vielen, die in den Lehrwerken nicht vorkommt. Denn nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie. Die richtige Theorie hilft, das, was wir sehen und hören, auch richtig zu verstehen.

Sprache ist uns anerschaffen, sie gehört zu unserem Geburtsrecht. Aber sie ist nicht das erste. Wir verfügen schon über ein kognitives Potential vor der Sprache, das in der Sprache und mit ihr weiterentwickelt wird.

Kognitiv meint hier zunächst unser Weltverständnis, alles, was wir von unserem Leben verstehen und wie wir Wirklichkeit erfasst und geordnet haben. Dazu gehört auch so etwas Fundamentales wie unser Symbolvermö­gen, das mit der Muttersprache heranreift: die wahrhaft erstaunliche Tatsa­che, dass es Lautungen gibt, Klänge, rhythmische Erschütterungen der Luft, die an unser Ohr dringen und auf etwas verweisen. Das eben ist ja eine der großen Errungenschaften des menschlichen Geistes, dass etwas für etwas anderes stehen kann, zu dem es sonst überhaupt keine Beziehung hat. Es ist das Arbiträre, Unmotivierte, Unbegründete in der Tatsache, dass etwa ein Schall wie “rot” ein Schall eine Farbe meint.  Kinder sind wie wir alle symboltüchtig, sie kennen intuitiv das Wunder der Zeichenver­wendung, das Wunder der Wörter. Hinzu kommen Grundmuster des Han­delns wie Essen, Schlafengehen, Geben und Nehmen, basic event types und all die verschiedenen Lebenswelten, in denen wir uns schon ausken­nen, drinnen und draußen, beim Arzt, im Bus, auf’m Spielplatz, beim Eismann usw.

Wir haben einen Sinn für Vergangenes und Noch Kommendes entwickelt, kennen die Logik von und und oder, gleich und Gegenteil, Teil und Ganzes, und all das in engster Verbindung mit der Mutterspra­che. Sallwürk (1881, 243) hatte völlig recht, als er gegen die Direktmethodi­ker argumentierte: “Es handelt sich vorerst, d.h. beim elementaren Unterricht in den Fremdsprachen gar nicht um die Gewinnung von Vorstellungen und Begriffen, sondern … um die Einkleidung gewonnener Begriffe in fremde Form.” Nur weil wir schon ohne weiteres übers Wetter sprechen können, können wir es auch auf Englisch oder Chinesisch versuchen.

Wir  tragen diesen Alltagsverstand, die erste Ordnung der Dinge, unsere Lebensbegriffe in die Fremdsprache hinein. Wir können gar nicht anders. Täten es die Schüler nicht zum allergrößten Teil von selbst, könnten die Lehrer gleich einpacken.

Zu den kognitiven Vorleistungen gehört nun auch unsere kommunikative Kompetenz

Kinder können nur leben im lebendigen Austausch mit ihren Pflegeperso­nen, sonst verkümmern sie. Von Geburt an erfahren wir uns als Wesen, die auf das Du zielen und begreifen, dass diese Du auch von uns etwas will.

Vorschulkinder können  bitten und betteln, behaupten, bestätigen, begründen, sich einschmeicheln, trösten, schimpfen, spotten, jemanden umstimmen, nachgeben, verbal angreifen und abwehren, und besonders gut können sie jammern. Sie verfügen über eine reiche Palette stimmlicher, intonatorisch markierter, expressiver, mimisch gestützter Ausdrucksmittel.

Weil Kinder schon in dieser Weise kommunikativ kompetent sind und schon früh eine emotional-kommunikative Intelligenz entwickelt haben, lautet meine erste praktische Empfehlung, am Anfang ständig Sprache zu inszenieren und kleine Stückchen einzustudieren, und zwar mit der bilingualen, schriftgestützten Sandwich-Technik.

Lehrer spricht vor: Will you make me a sandwich? / Machst du mir mal ‘n Brot? / Will you make me a sandwich?

 Also das muttersprachliche Mitteilungsäquivalent dazwischenpacken. Dies in aller Kürze.

Die mit der Muttersprache verwobenen kognitiven Vorleistungen schließen neben dem (1) Alltagswissen, (2) der kommunikativen Kompetenz, (3)  auch eine grammatische Potenz ein.

Intuitiv haben wir nicht nur das Wunder der Wörter, sondern mit den Wörtern auch das Wunder der Grammatik verstanden. Schon das vorsprachliche Kind weiß zwischen Personen und Sachen zu unterscheiden; der Unterschied wird dann von der Sprache ergriffen, ausgearbeitet und grammatisch relevant.  Es kann auch schon unterscheiden, wer etwas tut und wem etwas angetan wird, von wem, wo und womit.  Bekannt sind ihnen auch schon Wechselwörter wie “du” und “ich”, die je nach Sprecher und Situation jemand anderes meinen, nicht dieselbe Person. Damit haben Kleinkinder noch zu kämpfen, die “ich” und “du”, “mein” und “dein” gern verwechseln. „Wie sehr hier ein Lernproblem besteht, zeigen uns Kinder mit verzögerter Sprachentwicklung, die mitunter jahrelang die Pronomina umkehren“ (Butzkamm & Butzkamm, S. 15) Wie könnten Kinder den progressiven Aspekt verstehen, wenn sie noch nicht den Begriff des Andauerns und Vorübergehens  entwickelt hätten? Wieviele Relativsätze hat ein Kind schon gehört, mit dem man Bilderbücher ansieht: “Und wo ist der Mann, der …“? Und wie heißt das Tier, das…?

Aber, aber, könnten Sie sagen, das Problem ist doch, dass Sprachen dies unterschiedlich umsetzen! Jein! Die Vorleistungen der Muttersprache beschränken sich keineswegs auf formale Gemeinsamkeiten zwischen den Sprachen. Z.B.: Wir verstehen schnell, dass eine Sprache ein anderes Possessivum haben kann für einerseits ‘mein Kopf’ oder ‘mein Vater’ und andererseits ‘mein Löffel’ oder ‘mein Buch’. Wir können eben den Unterschied zwischen unveräußerlichem, nicht von mir trennbarem Besitz und einer anderen Besitzweise, einem auswechselbaren Besitz, nachvollziehen. So sind schon die Grundzüge der Temporalität, Kausalität, Konditionalität, Finalität und Konzessivität erworben, und zwar in dieser Reihenfolge. Wie beliebt sind Wenn-Sätze bei Eltern! Grammatiken, die Bedingungen ausdrücken, ohne ein Wörtchen wie “wenn” zu haben, sind nachvollziehbar, weil wir die zugrunde liegende Idee des “Wenn – dann” schon haben.

Neu zu lernen wären nur die spezifischen fremdsprachlichen Ausprägungen. Die Verschiedenheiten liegen   an der Oberfläche, über den Konstanten menschlichen Denkens in der Tiefe.

 Auch dieses Verständnis tragen wir in die Fremdsprache hinein. Täten wir es nicht, wir kämen nicht weit. In allen Sprachen liegt die eine Sprache der Menschheit. Genau so hatte es Humboldt gesehen (1963, 144). So wie das Leben selbst hier auf Erden nur einen Ursprung hat. Denn wo immer es hier Leben gibt, wird dasselbe genetische Wörterbuch und dieselbe Grammatik der Kombination und Rekombination  durchgereicht, seit vier Milliarden Jahren.

Allerdings, das muss jetzt betont werden, ist unsere sich in der Muttersprache entfaltende grammatische Potenz  keine analytische Intelligenz. Denn „während die Sprache unser Bewusstsein hell werden lässt, geschieht sie selber unbewusst“ (Karl Jaspers 1964). Die Grammatik ist im Tun, im Sprechen selbst versteckt. Sie ist nicht bewusst-rational, sondern rational-analog. Sie ist eine „unbewusst wirksame Intelligenz des Leibes“, wie es der Physiologe Hans Schäfer (1971) formuliert, vergleichbar mit den raffinierten Rechnereien, die unser Gehirn vornimmt, damit all die anderen Lebensvorgänge, unser Alltagskönnen zustande kommen wie das Sehen, Gehen und Greifen.  Wir können sehen, gehen, greifen, kauen, sprechen, aber nur Spezialisten können dieses Tun aufbröseln und beschreiben, in welchen Einzelschritten, mit welchen Routinen und eingebetteten Subroutinen sich das vollzieht. Wir sind sinnlich und motorisch begabt, aber nicht in gleicher Weise analytisch begabt. Wir können nicht einfach in diese Fähigkeiten hineinblicken und uns dann sagen, wie sie funktionieren. 

Fazit: “Die Kinder würden die Sprache nicht lernen, wenn sie nicht schon eine Sprache hätten”, schreibt Jean Paul, die Muttersprache hieße richtiger die „Sprach-Mutter“. Wer sie bloß als Feuerwehr gebraucht, übersieht, dass sie die unbefragte Voraussetzung allen Unterrichts ist. Die Lehrer müssen bilinguale Arbeits­techniken, die in meiner Methodik  detailgenau beschrieben werden,  kennen und verwenden,  natürlich im Ver­bund mit einsprachigen Arbeitsformen, und natürlich in einem Unterricht, der von Anfang an anstrebt, die fremde Sprache als Unterrichtssprache durchzusetzen. Letzteres ist allgemeiner Konsens.

 Und nun zum generativen Prinzip. Sprachen sind ja nur deshalb erlernbar,  weil man in ihnen „von endlichen Mitteln unendlichen Gebrauch macht“ (Humboldt). Genau das ist die Leistung der Grammatik, die unendlichen Möglichkeiten, die aus endlichen Mitteln erwachsen. Das generative Prinzip, d.h. Strukturübungen müssen  zu einem Eckpfeiler der Methodik werden.

Sehen wir uns doch mal an, wie Kleinkinder gelegentlich Satzmuster durchspielen, in Selbstgesprächen, ohne Partner.  Sie spielen das Analogiespiel. Sprache erweist sich als  ein Erzeugungssystem, ein ständiges Weiterschaffen und Sätze-Erfinden durch das Mittel der Kombinatorik.   Gisa, zwei Jahre alt, brabbelt vor sich hin: Mama haha (= schläft, geht schlafen); Giki haha, Wauwau haha;  Mama mhm (= soll essen, isst); Papa mhm; Gisa mhm…Es entwickelt sich schließlich ein abstraktes Schema, hier Handlungsträger – Handlung. […]

Was Kinder hier von sich aus tun, können wir auch im Unterricht umsetzen, und zwar am besten mit bilingualen halbkommunikativen Strukturübungen  […]

Diese sind reichlich dokumentiert und analysiert in meiner Methodik Lust zum Lehren, 3.
Auflage, S. 249ff. und zwar für Englisch und Französisch als Fremdsprachen.

 

 


 

 

 

 

Fremdsprachig unterrichten – wie schaffe ich das? Das Muttersprachenparadox.(Toulouse 2014)

 

1. Muttersprache: zwischen Wildwuchs und unterlassener Hilfeleistung

Wenn man vom Goethe-Institut eingeladen ist, sollte man mit einem Goethe-Zitat beginnen. Ich habe folgendes gewählt: Wer das erste Knopfloch verfehlt. Das trifft besonders auf den FU zu. Richtig anfangen, das ist entscheidend, ist auch schwierig und kontrovers. Ich will ihnen effektive Techniken vorstellen, die besonders am Anfang wichtig, aber auch später noch  nützlich sind.  Ich will zeigen, wie Theorie und Praxis, Wissenschaft und Unterricht ineinander greifen.

Im Endeffekt, und grob gesprochen,  lernt man Kommunizieren durch Kommunizieren wie das Schwimmen durchs Schwimmen und Tennis durchs Tennisspielen. Man lernt eine Sprache, indem man sie gebraucht, und nicht, indem man eine andere gebraucht. Das ist ein Grundgesetz des Lernens. Was liegt näher, dies auch im Unterricht soweit wie möglich zu praktizieren. Also alle Sprechanlässe  zu nutzen: begrüßen und sich verabschieden, aufrufen, Aufgaben stellen, Fehler korrigieren,  in der Fremdsprache loben, tadeln usw. Absolut plausibel. Vollkommen richtig. Das war und ist in der Tat nach wie vor das Ziel und eben auch der Weg. Aber nicht alle gehen diesen Weg mit gleich gutem Erfolg, und es gibt den Missbrauch der L1, dass man wie beim Latein den Unterricht muttersprachlich durchführt.

Unter dem Eindruck des weitverbreiteten Missbrauchs war die dringlichste Frage stets, wie kann ich es erreichen, so viel wie möglich in und durch die Fremdsprache zu unterrichten? Das war die Stoßrichtung. Der Muttersprache Raum geben, das tat man eher aus der Not heraus. Das war auch oft mit einem schlechten Gewissen verbunden. Es war eine Art Kapitulation. Man kapituliert vor  den Schwierigkeiten einer fremdsprachlichen Unterrichtsführung. Am Ende wird dann der Unterricht bis auf wenige fixe Formeln in der Muttersprache durchgeführt. Alles Organisatorische, alles Drum und Dran, alles Persönliche, Mitmenschliche, das in den Unterricht hineinspielt, was auch zur Sprache kommen muss, wird in L1 abgehandelt.  Ich nenne das den muttersprachlichen Wildwuchs: all das, was nicht Spracharbeit und Lehrbucharbeit im engeren Sinne ist, wird in L1 erledigt. Ein Praktikant berichtet lapidar: „Mitteilungsbezogene Ko. fand nicht statt“.  Oft wird auch berichtet, dass Lehrer gern fremdsprachlich loben, aber in die Muttersprache verfallen, wenn sie tadeln. Miriam schreibt über ihre Lehreerin:  „Schade, dass sie Deutsch sprach, wenn sie wirklich ärgerlich wurde. Wir hätten sie so gern auf frz. schimpfen gehört“. Wir wissen, dass das im Grunde falsch ist, weil so viele natürliche Sprechanlässe ungenutzt bleiben.

Falsch ist aber auch das völlige Beiseitelassen der L1, als ob es sie nicht gäbe, der Verzicht auf ihre Mithilfe – die allenfalls bei grammatischen Erklärungen erlaubt war. Falsch ist die schlichte Devise: so wenig Muttersprache wie möglich, weil sie auf der Unkenntnis ausgearbeiteter bilingualer Lehrtechniken  beruht. Man hat das Kind mit dem Badewasser ausgeschüttet. Das kann zu so etwas wie unterlassener  Hilfeleistung führen. Ich will Ihnen vornehmlich zeigen, wie man die Muttersprache nicht einfach bloß erlaubt, sondern zum Bündnispartner macht, und zwar so, dass man die fremdsprachliche Verständigung im Unterricht fördert, statt sie zu behindern.

Denn wenn es stimmt,

  • dass kein Schüler bei Null anfängt, sondern das gesamte Gepäck seiner sprachlichen Vorgeschichte mit sich trägt;
  • dass man eine Fremdsprache nur auf dem Boden einer erworbenen, natürlich gewachsenen Sprache erwerben kann,
  • dass die hiermit geschaffenen kognitiven Grundlagen das Lernen einer Fremdsprache überhaupt erst ermöglichen,

stellt sich noch eine andere Frage:

  • Wie kann man optimal an diese Grundlagen anknüpfen,
  • wie kann man erworbene Fähigkeiten und Fertigkeiten für die Fremdsprache fruchtbar machen,
  • wie kann man das vorhandene, muttersprachlich verquickte kognitive Potenzial ausreizen, statt es zu ignorieren?

Beide Fragen sind gleich berechtigt. Der Paradigmenwechsel, den ich anstrebe, bedeutet, auf den Punkt gebracht, dass nunmehr auch die zweite Frage der Anbindung ernsthaft gestellt wird, und die Muttersprache nicht wie bisher nur als Störfaktor und Nothelfer, sondern als Geburtshelfer der Fremdsprache gesehen wird.

Meine These, die Antwort auf beide Fragen zugleich, lautet: Paradoxerweise gelingt es am besten, die Fremdsprache als Arbeitssprache, als Mittel und Medium des Unterrichts zu etablieren, wenn wir systematisch, aber gezielt und genau dosiert die Muttersprache zu Hilfe nehmen, ohne der Fremdsprache zu viel Zeit zu stehlen.

2. Die fünffache Mitgift

Nicht anzustreben ist deshalb die Einsprachigkeit, die keine zweisprachigen Lehrtechniken kennt und die Muttersprache auf die Rolle der Feuerwehr bei schwierigen Wort- und Strukturerklärungen reduziert. Richtig ist: In der Muttersprache, mit ihr  und durch sie haben wir (1)   unser Denken fortentwickelt und die Welt auf den Begriff gebracht; (2) kommunizieren gelernt (3) unsere Stimme entwickelt und artikulieren gelernt; (4) eine grammatische Grundordnung intuitiv zu erfassen gelernt; (5) wir haben die sekundären Fertigkeiten des Lesens und Schreibens erlernt. Dieses Geprägt- und Schon- Informiertsein, d.h. die umgreifende, in der Erstsprache heranreifende Sprachlichkeit des Menschen, ist das Fundament unserer Selbstwerdung und der größte Aktivposten des Fremdsprachenlerners.

Die Muttersprache (einschließlich anderer, wie Muttersprachen früh erworbener Sprachen) ist darum das Instrument zur Erschließung fremder Sprachen, ihrer Bedeutungen, ihrer grammatischen Formen und Funktionen, der Dechiffrierschlüssel, der

  • den schnellsten,
  • den sichersten,
  • den genauesten
  • und vollständigsten Zugang zur Fremdsprache bildet –  bis diese sich zunehmend selbst weiterbauen kann.

 

Ich erläutere nun die eben aufgeführte fünffache Mitgift der Muttersprache.

1. Sprache ist uns anerschaffen, sie gehört zu unserem Geburtsrecht. Aber sie ist nicht das erste. Wir verfügen schon über ein kognitives Potenzial vor der Sprache, das in der gelebten Sprache und mit ihr weiterentwickelt wird.

Kognitiv meint hier zunächst unser Weltverständnis, alles, was wir von unserem Leben verstehen und wie wir Wirklichkeit erfasst und geordnet haben. Dazu gehört auch so etwas Fundamentales wie unser Symbolvermö­gen, das mit der Muttersprache heranreift: die wahrhaft erstaunliche Tatsa­che, dass es Lautungen gibt, Klänge, rhythmische Erschütterungen der Luft, die an unser Ohr dringen und auf etwas verweisen. Das eben ist ja eine der großen Errungenschaften des menschlichen Geistes, dass etwas für etwas anderes stehen kann, zu dem es sonst überhaupt keine Beziehung hat. Es ist das Arbiträre, Unmotivierte, Unbegründete in der Tatsache, dass etwa ein Schall wie “rot”  oder ein ganz anderer Schall wie Türkisch kirmizi eine Farbe meint.  Kinder sind wie wir alle symboltüchtig, sie kennen intuitiv das Wunder der Zeichenver­wendung, das Wunder der Wörter. Hinzu kommen Grundmuster des Han­delns wie Essen, Schlafengehen, Geben und Nehmen und all die verschiedenen Lebenswelten, in denen wir uns schon ausken­nen, drinnen und draußen, beim Arzt, im Bus, auf’m Spielplatz  usw. Wir haben einen Sinn für Vergangenes und Noch Kommendes entwickelt, kennen die Logik von und und oder, gleich und Gegenteil, Teil und Ganzes, und all das in engster Verbindung mit der Mutterspra­che. Da sind stark befahrene neuronale Datenautobahnen entstanden.

Wir lernen neue Ausdrucksweisen, die müssen wir aber an bekannte Begriffe hängen, die ihrerseits schon mit muttersprachlichen Ausdrücken eng verbunden sind.

Nur weil wir schon ohne weiteres übers Wetter sprechen können, können wir es auch auf Englisch oder Chinesisch versuchen. Wir  tragen diesen Alltagsverstand, die erste Ordnung der Dinge, unsere Lebensbegriffe in die Fremdsprache hinein. Wir können gar nicht anders. Täten es die Schüler nicht zum allergrößten Teil von selbst, könnten die Lehrer gleich einpacken.  Die stille Präsenz der Muttersprache wird durch sprachpsychologische Experimente sowie von der modernen Hirnforschung vollauf  bestätigt: Einsprachigkeit ist anfangs eine innere Unmöglichkeit.

2. Zu den kognitiven Vorleistungen gehört nun auch unsere kommunikative Kompetenz.

Kinder können nur leben im lebendigen Austausch mit ihren Pflegeperso­nen, sonst verkümmern sie. Von Geburt an erfahren wir uns als Wesen, die auf das Du zielen. Das ist unsere soziale Intelligenz: mit andern mitfühlen, sie verstehen, auch um sie zu manipulieren. Vorschulkinder können  bitten und betteln, behaupten, bestätigen, begründen, sich einschmeicheln, trösten, schimpfen, spotten, jemanden umstimmen, nachgeben, verbal angreifen und abwehren, sich herausreden, und besonders gut können sie jammern. Sie verfügen über eine reiche Palette stimmlicher, intonatorisch markierter,  mimisch gestützter Ausdrucksmittel.

Meine fünfjährige Enkelin, die dreisprachig, mit Französisch als dominanter Sprache aufwächst, hat schon ein feines Gespür für kommunikative Tonlagen und Gestimmtheiten. Als ich das folgende Stückchen mit ihr durchprobierte, hat sie da sofort hineingefunden:

 

 

Folie: Falsche Welt (Handzettel)

 

Der neutrale Tonfall zu Beginn, das ungläubige Was, das insistierende, bestimmte Wiederholen, der Protest: „Aber Mütter machen doch…“, das überlegene „Die Zeiten ändern sich“, all das war ihr nicht fremd,  das hat sie sofort spielend übernehmen können.

Wir Menschen sind von früh auf  befähigt, uns in andere hineinzudenken und hineinzufühlen. (etwa ab dem ersten Lebensjahr: perspective-taking, theory of mind) Das ist ein altes Erbe der Menschheit. Nur in der Gruppe konnten wir überleben. Deshalb mussten wir früh lernen, die andern um uns herum zu verstehen,  mögliche Reaktionen voraus zu sehen, mit anderen gemeinsame Sache zu machen.  So sind auch schon Vorschulkinder Gedankenleser und können sich leicht Masken aufsetzen.  Ohne weiteres  können sie Vater, Mutter, Lehrer oder den eigenen Hund spielen.

Das alles ist keineswegs selbstverständlich. Selbstverständlich aber ist: Wir tragen auch dieses Schon-Kommunizieren-Können in die Fremdsprache hinein. Täten wir es nicht, wir kämen nicht weit.

 

3. Arbeit mit Dialogen

Und jetzt mein Unterrichtsvorschlag:

Weil Kinder schon in dieser Weise kommunikativ kompetent sind und schon früh eine emotional-kommunikative Intelligenz entwickelt haben, lautet meine erste praktische  Empfehlung, am Anfang ständig Sprache zu inszenieren und kleine Stückchen der gezeigten Art einzustudieren. Dialoge sind beim Sprachenlernen eine Allzweckwaffe und wurden schon der Antike benutzt.

Gespräch unter Männern

Hier noch ein zweiter Dialog.

Dialoge sind ideale Sprachlerntexte, denn: Sprache ist im Sprechen. Und das Sprechen braucht einen Partner. Sprache entsteht ja zwischen den Menschen, die miteinander handeln. Hier ist nicht die Maschine, sondern der Mensch des Menschen Lehrer.

Wir erarbeiten diese Stückchen zunächst mit dem Ziel, dass alle Schüler sie am Ende frei und natürlich sprechen und spielen können. Der Anfang ist Vorsprechen und Nachsprechen mit der bilingualen, schriftgestützten Sandwich-Technik. Das sieht so aus. Seien Sie bitte für einen Augenblick meine Schüler:

 

Du siehst so niedergeschlagen aus.

Tu as bien l’air déprimé, toi.

Tu n’as pas l’air dans ton assiette.

Du siehst so niedergeschlagen aus.

 

Also das passsende, sprechübliche, idiomatische  muttersprachliche Mitteilungsäquivalent dazwischenpacken. Aber das ist noch nicht alles. Bei schwierigen Sätzen spreche ich gewöhnlich das Original ein drittes Mal still vor. Die Schüler schauen auf mich und sprechen still mit, und dann erst zeige ich auf  Schüler und gebe damit das Signal zum Nachsprechen.

Ich fasse zusammen:

Zwei Fragen gilt es zu beantworten: 1. Warum ist diese Art der Semantisierung so effektiv? Weil beide Äußerungen, Original und Übersetzung, ein vollgültiges Sprachereignis darstellen:  Äußerungen, nicht Wörter, sind die primäre Wirklichkeit der Sprache. Alles ist da:

Stimme und Satzmelodie + Mimik + Gestik / Körpersprache

Man spürt Erichs Besorgnis schon in der Stimme, dazu kommt der besorgte Gesichtsausdruck…

2. Welche Momente erleichtern das Nachsprechen?

Mentale Ressourcen werden frei für die Konzentration aufs Nachsprechen: Das ist die Aufgabe, das fällt schwer, das muss der Schüler selbst leisten, das können wir ihm nicht abnehmen. Also: Entlastung von der Sinnerschließung.

Unmittelbares Nachsprechen: kein Namensaufruf  + Mundbilder +

Schriftgestütztes Hören

Festigung des Textes – Arbeitsschritte zur Auswahl:

Denselben Text mehrfach abfragen, aber immer anders

  1. Entspannt: Stimmt – stimmt nicht (dasselbe – anders)
  2. Bildnummer+Sprecher
  3. Stichwort / Signalwort – ganzer Satz
  4. Lippenablesen
  5. Rückübersetzung
  6. Freies Aufsagen eines beliebigen Satzes
  7. Gehend: Hinschauen – Lesen – Aufschauen – Sprechen: aus dem Kopf sagen

 

4. Sandwichtechnik und Doppelpass  

Genau diese Technik benutzen wir auch, um möglichst früh, möglichst viel von der phraséologie scolaire einzuüben.

Hier zwei Momentaufnahmen aus dem Englischunterricht. Folie:

Lehrer: Goodbye. See you tomorrow…

Lehrer: “You’ve skipped a line. Du hast eine Zeile übersprungen. You’ve skipped a line.”

Die Sandwich-Technik kann man ja sehr diskret handhaben, etwa in der Art des Beiseite-Sprechens oder des Zuflüsterns.

Die Sandwich-Technik des Lehrers hat ein bilinguales Pendant auf Schülerseite:

Keineswegs darf man den Schülern jedes muttersprachliche Wort verbieten, sondern muss  ihre Einwürfe aufgreifen und das fehlende Äquivalent zur Verfügung stellen:

Sehr aufschlussreich war eine Geschichtsstunde, die ich vor Jahren am bilingualen Zweig eines Hamburger Gymnasiums aufgezeichnet und verschriftet habe.  Es gab eine lebendige Diskussion über den ersten Irak-Krieg. Sie wurde möglich, weil sehr oft der Doppelpass gespielt wurde, wie oben. Die L1 wirkte wie ein Schmiermittel, un lubrifiant de la conversation. Die Muttersprache wird so geschickt eingeschleust, dass sie kaum fremdsprachige Kontaktzeit kostet. In wenigen Sekunden wird den Schülern die jeweils gebrauchte Wendung zugespielt, dann geht das Gespräch weiter.

Mit diesen bilingualen  Techniken  ist es leichter, die Fremdsprache als Verkehrssprache im Unterricht konsequent zur Geltung zu bringen und die kommunikative Qualität des Unterrichts zu verbessern.

Die Wirklichkeit sieht oft anders aus. Es gibt viele verpasste Gelegenheiten (Folie).

Auf diese Weise wird echte Kommunikation  zum bloßen Lippenbekenntnis.

 

Der Lehrer stellt hier die Hausaufgabe auf  Englisch, der Schüler hält sich aber nicht an den Standardsatz, den er kennen müsste: How do you say ‚sparen‘? Der Lehrer tut dann das Falsche. Er verweigert die Auskunft. Genau das, dass man sich an den Lehrwerkwortschatz zu halten habe, berichtet ein deutscher Lehrassistent aus England:

„Ähnlich war es mit den Berufen der Eltern. Alle Eltern waren entweder Mechaniker oder Sekretärinnen, wie im Lehrbuch.“  Cornelia, German assistant teacher

Absurd.

Viele Kollegen haben erfahren, wie energieverzehrend das Bemühen der Lehrer um einen fremdsprachigen Unterricht ist.  „Da beißt man sich als Lehrer bei den meisten Schülern die Zähne aus,“ wird ein Lehrer zitiert. Der gezielte Einsatz der Muttersprache wird den Kampf“ der Lehrer um Durchsetzung der Fremdsprachigkeit bei den Schülern wohl nicht ganz abschaffen, aber doch erheblich abmildern.

Ich empfehle ein Fünf-Punkte Programm:

  1. Zwischenschieben
  2. Aufgreifen und Zurückspielen
  3. Festhalten, schriftlich fixieren zwecks Wiederverwendung. Die Schüler können die neuen Ausdrücke – vielleicht am Ende der Stunde –  in eine Extra-Kladde eintragen und sich merken, so dass sie beim nächsten Mal nicht mehr übersetzt werden.
  4. Durchhalten: Konsequenz
  5. Zusammenhalten

Fazit: Muttersprachliche Verstehenshilfen, richtig eingesetzt, erleichtern die fremdsprachige Unterrichtsführung, statt sie zu verhindern.

Ich komme zurück zur fünffachen Mitgift der Muttersprache.

Intuitiv haben wir nicht nur das Wunder der Wörter, sondern mit unserem Alltagswissen und unserem kommunikativem Können auch das Wunder der Grammatik verstanden.

Fünf Beispiele, die ich beliebig vermehren könnte:

  1. Schon das vorsprachliche Kind weiß zwischen Personen und Sachen zu unterscheiden; der Unterschied wird dann von der Sprache ergriffen, ausgearbeitet und grammatisch relevant.
  2. Es kann auch schon unterscheiden, wer etwas tut und wem etwas angetan wird, von wem, wo und womit.
  3. Bekannt sind ihnen auch schon Wechselwörter wie “du” und “ich”, die je nach Sprecher und Situation jemand anderes meinen, nicht dieselbe Person. Damit haben Kleinkinder noch zu kämpfen, die “ich” und “du”, “mein” und “dein” gern verwechseln. „Wie sehr hier ein Lernproblem besteht, zeigen uns Kinder mit verzögerter Sprachentwicklung, die mitunter jahrelang die Pronomina umkehren“ (Butzkamm & Butzkamm, S. 15).
  4. Wie könnten Kinder den progressiven Aspekt verstehen, wenn sie noch nicht den Begriff des Andauerns und Vorübergehens  entwickelt hätten?
  5. Wieviele Relativsätze hat ein Kind schon gehört, mit dem man Bilderbücher ansieht: “Und wo ist der Mann, der …“? Und wie heißt das Tier, das…?

Schulkinder haben mehr als einen grammatischen Grundvorrat angesammelt,auch wenn sie bis in die Schuljahre hinein noch dazulernen müssen.Aber, aber, könnten Sie sagen, das Problem ist doch, dass Sprachen dies unterschiedlich umsetzen! Jein!  Z.B.: Wir verstehen schnell, dass eine Sprache ein anderes Possessivum haben kann für einerseits ‘mein Kopf’ oder ‘mein Vater’ und andererseits ‘mein Löffel’ oder ‘mein Buch’. Wir können eben den Unterschied zwischen unveräußerlichem, nicht von mir trennbarem Besitz und einer anderen Besitzweise, einem auswechselbaren Besitz, nachvollziehen. So sind schon die Grundzüge der Temporalität, Kausalität, Konditionalität, Finalität und Konzessivität erworben, und zwar in dieser Reihenfolge. Wie beliebt sind Wenn-Sätze bei Eltern! Grammatiken, die Bedingungen ausdrücken, ohne ein Wörtchen wie “wenn” zu haben, sind nachvollziehbar, weil wir die zugrunde liegende Idee des “Wenn – dann” schon haben. Neu zu lernen wären in der Tat die spezifischen fremdsprachlichen Ausprägungen. In der genetisch vorprogrammierten Eltern-Kind Kommunikation wächst ein Kapital heran für den Rest des Lebens, ein Kapital, mit dem wir arbeiten können und müssen. Wir müssen es besser als bisher verzinsen. Grammatik von der Muttersprache her ist Grammatik vom Schüler her.

Wir tragen also unser grammatisches Vorverständnis in die Fremdsprache hinein. Täten wir es nicht, wir kämen nicht weit. In allen Sprachen liegt die eine Sprache der Menschheit. Die Verschiedenheiten liegen an der Oberfläche, über den Konstanten menschlichen Denkens und Welterlebens in der Tiefe. Wie diese Erkenntnis praktisch umzusetzen ist, z.B. durch bilinguale Strukturübungen, kann ich Ihnen aus Zeitgründen nicht mehr zeigen.

Hier ist jemand, der mit gesundem Menschenverstand an eine neue Aufgabe herangeht:

„Tout de suite j’ai entrepris d’apprendre le berbère. Tous les jours je venais m’asseoir près du chef de clan et lui demandais : Comment dit-on : « donne-moi ton bras » ou « Je ne te ferai pas mal », bref, les expressions courantes qu’il faut savoir dans le métier d’infirmière. Je notais phonétiquement tout ce qu’il me disait et l’apprenais par cœur le soir et le lendemain je retournais voir le chef qui me corrigeait autant de fois que nécessaire. Ainsi ai-je fini par parler le berbère avec le bon accent, ce qui me valut le surnom de  « la sœur arabe ». (Goure 1981, 119)

Die Naturmethode ist anfangs zweisprachig und mündet in die Einsprachigkeit.

Fazit: “Die Kinder würden die Sprache nicht lernen, wenn sie nicht schon eine Sprache hätten”, schreibt Jean Paul, ein Zeitgenosse Goethes, die Muttersprache hieße richtiger die „Sprach-Mutter“.  Sie ist die unbefragte Voraussetzung allen Unterrichts. Die Lehrer müssen bilinguale Arbeits­techniken verwenden, natürlich im Ver­bund mit einsprachigen Arbeitsformen, und natürlich in einem Unterricht, der von Anfang an anstrebt, die fremde Sprache als Unterrichtssprache durchzusetzen.