Zur Kritik des fremdsprachlichen Anfangsunterrichts an der Grundschule

Ich zitiere aus der Süddeutschen Zeitung (12.7.04) über den EU in der Grundschule: „In einem sind sich alle Länder einig. Die Lehrkräfte sollen kein Wort Deutsch sprechen – auch wenn diese „Sprachbad-Methode“ manchmal stressig sei. Die Muttersprache ist aus dem Unterricht auszuschließen, um alle Zeit der Fremdsprache zu geben. Ein Grundirrtum, ja kapitaler Fehler!

Dafür liefert der Beitrag gleich ein Beispiel: „Wenn Marion K. Tiernamen an die Tafel schreibt und die Kinder Bildkarten auf den Tisch legen sollen. ‘Just put them in a row’, sagt Frau K. Sie sagt das sieben-, achtmal und zeichnet mit dem Zeigefinger dabei eine Linie in die Luft. Trotzdem verstehen nicht alle Drittklässler, was Sache ist. Sie versucht es tapfer weiter: ‚No, Christine, don’t write any numbers on your cards.’ Nur wenn das Chaos überhand nimmt, greift die Lehrerin zu einem deutschen Machtwort. Am Anfang, erzählt sie, seien die Schüler überfordert gewesen. ‚Wenn ich Englisch gesprochen habe, haben sie mich angeguckt, als hätten sie ein Gespenst gesehen’.”

„Just put them in a row“ – das hätte man doch sehr schön vormachen können, denkt man sich, und übersieht, dass es selbst bei scheinbar einfachen Sachen viel mehr Missverstehen gibt, als unsere Lehrerweisheit sich träumen lässt. Es ist eben keine Seltenheit, dass Schülerinnen und Schüler lange im Dunkeln tappen und erst einmal mit völlig falsch Verstandenem nach Hause gehen. Warum muss aber erst das Chaos drohen? Beim ersten Anzeichen des Nichtverstehens hätte die Lehrerin – vielleicht leiser, in einem anderen Tonfall – sagen können: „Legt sie einfach in eine Reihe“, um dann lauter zu wiederholen: “Just put them in a row”. Mit dieser Sandwich-Technik wäre alles geklärt, ohne jeden Stress des Nicht-Verstehens.

Wieso tut sie nun nicht das Naheliegende? Weil Ausbilder und Richtlinienverfasser ihr ein schlechtes Gewissen eingeredet haben. Wie oft hab ich in diesem Zusammenhang von Schuldgefühlen gelesen, auch im Internet, diese Sache mit dem schlechten Gewissen! Die Muttersprache ist nur die Feuerwehr, die man  im Notfall ruft, wer aber ohne sie auskommt, ist King.  Und Marion K. handelt so, wie das Gesetz es befiehlt, zumal ja auch noch Besuch da ist.

Dass es aber den Stress des Nicht-Verstehens gibt, und zwar nicht nur als Ausnahmefall, das haben Schülerbefragungen nachdrücklich belegt. „Das Schlimmste für lernschwache Schüler war, überhaupt nicht zu verstehen, worum es ging und was der Lehrer von ihnen wollte“, heißt es in einer Befragung von über 1000 englischen Gesamtschülern der neunten Klasse. “The feeling of being lost in language lessons was so clear. It’s sad really” (Butzkamm & Caldwell 2009, S. 77).

Sch., die jetzt von der Grundschule auf die Realschule wechselt, liest mir ein Stück aus ihrem Englischbuch vor, an das sie sich sehr gut erinnert. Sie liest stockend, macht gröbste Aussprachefehler, man wird an Öttingers Einführungsrede als neuer EU-Kommissar erinnert: „Then they went to pay: Weißt du denn, was das heißt, was du da liest? Sie hat durchaus ein Grobverständnis der Geschichte und rät wild drauflos: „Went to pay? „Irgendwie Umarmung oder so“ (!). „Daddy, you finally bought something good.“ Ja, was heisst das denn nun? “Papa, das hast du gut gemacht.“  Da ist sie näher dran, aber wer so missversteht, kann diese Sprachstücke auch nicht aktiv gebrauchen. Sch. und andere Nachbarskinder, die ähnlich schlecht gelesen haben, sind reale Produkte des real existierenden Englischunterrichts. „You picked a bad example”, mag man einwenden, wie es Colonel Pickering dem Professor Higgins in My fair Lady vorwirft. Nun gut, lassen wir das dahingestellt. Für mich ist es eine Sauerei, wenn Kinder so für die Fremdsprache verdorben werden, wo es doch mit gleichem Aufwand viel besser ginge.

Das Thema Rolle der Muttersprache im Fremdsprachenunterricht beschäftigt mich nun schon seit 40 Jahren. Ich habe es eigentlich nie aus den Augen gelassen, ja mit einer gewissen Hartnäckigkeit verfolgt. Die musste auch sein, angesichts des Widerstandes nicht nur im eigenen Lande, sondern weltweit. Wenn man aber lange genug bei einer Sache ist und sich gründlich auskennt, trägt man als Fachmann auch Verantwortung dafür, dass erkannte Missstände auch beseitigt werden. Notfalls muss man auch auf die Pauke hauen und Klartext reden, ohne Rücksicht auf Verluste, im Interesse der Sache, hier im Interesse der Millionen von Fremdsprachenschülern, denen man das Leben unnötig schwer macht. So sage ich’s gleich frei heraus: Man sollte den Richtlinienmachern  für die Fremdsprachen an den Grundschulen gehörig auf die Finger klopfen. Einsprachigkeit, wie sie sie verstehen, als Prinzip mit gelegentlichen Ausnahmen, muss von der Bildfläche verschwinden. Der Unsinn gehört weggefegt. Es ist ein Riesenunterschied, ob man die Muttersprache  (oder auch eine im Sprachland erworbene Zweitsprache) homöopathisch verdünnt, als Nothelfer, als letzte Instanz,  zulässt, oder als Kapital ansieht, das man einsetzt und für sich arbeiten lässt. In einem Fall ist sie die Ausnahme, im anderen die Regel, und die Regel sollte es auch sein.

Aber es heißt offiziell, die ganze Zeit sei für die Fremdsprache zu nutzen. Das ist ja gut gemeint, und ach so plausibel, so einleuchtend, aber auch so simpel, so platt, so platt.  Als ob wir das nicht alle schon längst wüssten.  Das sagt einem ja schon der gesunde Menschenverstand. Auf Englisch kommunizieren lernt man dadurch, dass man genau das auch tut. Wir lernen die fremde Sprache, wenn wir uns in ihr bewegen, im Sprachland, aber auch im Klassenzimmer. Das ist die Grundregel jeden Fertigkeitserwerbs. Schwimmen lernt man letztlich durch Schwimmen. Basketball durch Basketball, aber nicht, wenn man stattdessen Volleyball spielt. Schon richtig. Aber trotzdem schlecht gedacht und schlecht gemacht. Und schon gar nicht recherchiert und geprüft. Natürlich wollen wir dahin, dass  alles auf Englisch läuft. Aber man verwechselt das Ziel mit dem Weg. Die Richtlinienmacher sehen nur die Sprachfallen, die die Muttersprache bereithält. Aber die sind nachweislich auch noch da, wenn die Erstsprache im Unterricht gar nicht gebraucht wird. Wir müssen nämlich nicht nur nach den Risiken, sondern auch nach den Chancen fragen.

Ich greife nur einen Punkt heraus: die grammatischen Vorleistungen der Muttersprache.

Was für’n Heikorei wird um die If-Sätze gemacht. Ein Grundschulkind hat schon Tausende von Wenn-Sätzen gehört, die ja so beliebt bei Eltern sind. Es versteht Bedingungen, kann mit ihnen umgehen, kann mit anderen darüber verhandeln, und das ist ungleich bedeutsamer fürs Lernen von if-clauses als die Tatsache, dass man Wenn-Sätze und if-clauses nicht stets eins zu eins aufeinander abbilden kann. If-Sätze habe ich z.B. mit Grundschulkindern  anhand des Protestsongs If I had a hammer geübt und dabei schlicht übersetzt. Oder nehmen wir Relativsätze. Hören Sie mal zu, wie man Bilderbücher mit den Kindern durchblättert: „Wer ist das denn da, der gerade über die Straße läuft? Wo ist denn der Hund, der sich die Wurst geschnappt hat?“ Unzählige Relativsätze. Dies, wie auch die Konditionalität, sind nur zwei Beispiele für die kognitiven Vorleistungen, die sich mit der Muttersprache und an ihr entfaltet haben und in das Fremdsprachenlernen eingespeist werden müssen. Wenn die Schüler das nicht zum großen Teil schon von sich aus täten, käme man im Unterricht nicht weit. Die Schule hat die Aufgabe, sie dabei zu unterstützen, dieses Potenzial auszureizen statt es zu ignorieren.

Zu viele spielen das Problem herunter. Ist es wirklich damit getan, wenn man seinem gesunden Menschenverstand folgt, nicht päpstlicher als der Papst ist und sich nicht scheut, die Muttersprache flexibel einzusetzen, etwa bei authentischen Texten, bei Liedern und Kinderreimen? Es wird ja nichts so heiß gegessen, wie’s gekocht wird. Also Einsprachigkeit ja, aber eben mit ein paar Abstrichen? Weit gefehlt!  Ich habe nichts gegen vernünftige Kompromisse, die gehören aber in die Politik, nicht da, wo man die Dinge wissenschaftlich hinreichend klären kann.

Die Lösung ist eben nicht ein bisschen mehr oder weniger Muttersprache. Man muss viel genauer hinschauen, um zu erkennen, was genau die Muttersprache leistet und wie entscheidend sie mithilft.  Dann erst bekommt man einen Blick für die Dimension dieser Mithilfe. Die Lehrer müssen  bilinguale Arbeitstechniken, die ich detailgenau beschrieben habe, kennen und im Verbund mit einsprachigen Arbeitsformen regelmäßig verwenden.  Seiteneinsteiger, die kein oder kaum Deutsch sprechen,  mit Herkunftssprachen, die weder Lehrer noch Mitschüler kennen, müssen den Umgang mit elektronischen Wörterbüchern lernen, die sie im Unterricht benutzen. Verstehen von neuen Ausdrücken ist das Wichtigste. Es geht aber nicht nur um die muttersprachliche Mithilfe bei der Bedeutungsvermittlung, sondern u.a. auch um bilinguale Grammatikübungen.

Schöne Erfolge sind möglich

Was mich aufregt, ist das unnötige Leid, das die in Richtlinien verbreitete didaktische Unvernunft erzeugt. Für die  Zukunft erträume ich mir einen Anfangsunterricht mit kleinen Klassen, in dem wir kleine Alltagsdramen lustvoll durchspielen, viel singen, tolle Geschichten hören und selber erfinden. Und noch eins: Am Anfang muss man klotzen, nicht kleckern. Zwei Wochenstunden Englisch ist zu wenig. Auch wenn wohl alle Bundesländer so verfahren, ist das Unsinn. Übrigens: Dass Grundschulkinder unter den üblichen schulischen Bedingungen schneller und besser eine gute Aussprache hinkriegen als Elfjährige, ist eine Mär. Dass man dennoch schöne Erfolge im Grundschulenglisch erzielen kann, wenn man’s richtig anfängt, kann ich mit Film- und Tondokumenten belegen (Klasse 4).

Handy Sketch
A Model Teacher Sketch (Text siehe Laugh & Learn Dialogues)
Wrong World Sketch (Text siehe Laugh & Learn Dialogues)
Sweet Home Sketch (Text siehe Laugh & Learn Dialogues)
Black Eye Sketch

 

19/5/ 2014. At  12.50. The lesson begins.  We study a new dialogue. Everybody listens. The sun shines. We feel the midday heat.

 

 

 

 

Forty minutes later. I asked them to do a read-and-look-up task while walking about the classroom. But give them an inch, and they’ll take a mile. Suddenly they were up on the desks. If I only knew which of them started it all. Must have been a boy. The visitor who took the foto says she doesn’t remember who started it…

Unerwünschte Nebeneffekte der falschen Einsprachigkeit

Es gibt bisher wenig beachtete Nebeneffekte der falschen Einsprachigkeit. Der Sprachstoff wird z.B. sorgfältig ausgewählt und visuell abgestützt, einzig mit dem Ziel, dass man in der Fremdsprache verbleiben kann. Aber was hat man sich damit eingehandelt? Auffällig ist die Konzentration auf das Einzelwort. So ist  z.B. das Thema „animals in the zoo“ sehr beliebt. Die Bilder sind eindeutig und die Kinder lernen die englischen Bezeichnungen, die Tiernamen ebenso wie Farbwörter und die parts of the body, aber nicht eigentlich das kommunikative Drumherum.  Und o weh, wenn die Lernenden aus dem Korsett ausbrechen und mal selbst mitreden wollen! Typisch folgendes Unterrichtszitat aus dem Bericht der SZ:

„Do you like orange juice? Ein Mädchen kann sich nicht entscheiden und möchte wissen, was halb und halb heißt … Please say: I like oder I don’t like. „Halb und halb“ ist eben nicht vorgesehen.“

Die Spontaneität und Bereitschaft, wirklich das zu sagen, was man sagen möchte, sterben ab. Das Gegenteil wäre richtig: die Schülerinnen und Schüler gegebenenfalls sogar dazu zu ermuntern, in ihren Beiträgen den deutschen Ausdruck einzuflechten, wenn sie nicht weiterwissen (wie wir selbst das ja auch in entsprechenden Situationen tun). Die gut ausgebildete, sprachlich wendige Lehrkraft hilft dann mit dem fremdsprachlichen Ausdruck aus, den die Schüler von ihr übernehmen.

Einer meiner Deutschpraktikanten in England wunderte sich zunächst, warum alle Eltern seiner Schüler in den Sätzchen, die sie produzierten, die gleichen Berufe hatten, nämlich nur X, Y oder Z. Bis er dahinter kam, dass es eben die drei vom Lehrwerk mit Bildchen vorgestellten Berufe waren. Ähnlich dürfen unsere Anfänger nur die Hobbys haben, die im Lehrwerk vorkommen:

Klasse 5,  erstes Jahr Englisch. Jeder soll auf die Fragen How old are you? Where are you from? What’s your hobby? ein Sätzchen schreiben. Ein Mädchen fragt: „Was heißt Galoppreiten?“ Der Lehrer: „Nehmt nur die Wörter, die wir geübt haben.“ Darauf ein Junge: „Nimm doch einfach Fußball.“

Aber mit gezielten muttersprachlichen Einhilfen lernen Schülerinnen und Schüler, sich spontan zu äußern, auch Persönliches zu erzählen und eigene Meinungen zu riskieren. Lehrende können mit der Sandwich-Technik auch Aktuelles und Unvorhergesehenes zur Sprache bringen, ohne mit umständlichen Erklärungen Verwirrung zu stiften. Sonst versuchen sie nur das zu machen, was einigermaßen einsprachig, ohne jeden Rückgriff auf die Muttersprache vermittelbar ist. Authentische fremdsprachige Kommunikation wird dann Mangelware. Es gilt, die Muttersprache als ein Kapital zu sehen, das geschickt eingesetzt, großen Gewinn abwirft. Auf das geschickte Einsetzen kommt es freilich an. Das ist etwas grundsätzlich anderes, als die Muttersprache zu „erlauben“, wenn’s sonst zu schwierig wird.

Sprech- und Sangeslust

Tondokument: Eine Schülerin, am Ende der vierten  Klasse, liest vor
Tondokument: Do you speak English?
Song Yesterday

A bell is no bell till you ring it
A song is no song till you sing it.

Ich habe mal Kinder aus einem Dorf im Münsterland am Ende ihrer Grundschulzeit bekannte, in der Schule mündlich und schriftlich durchgearbeitete Texte vorlesen lassen. Angeblich soll ja die Aussprache so viel leichter fallen, wenn man vier Jahre früher anfängt als vorher üblich. Denkste. Bei vielen (wie vielen?) klingt’s scheußlich. Oben nur ein abschreckendes Beispiel, wobei zugegebenermaßen das laute Lesen auch zu Aussprachefehlern verführt. Soviel ist jedenfalls richtig: Das Zutrauen zur fremden Sprache, und damit auch die Lust zur fremden Sprache, hängen entscheidend davon ab, dass sie uns sprechmotorisch nicht mehr widersteht; dass uns fremde Sätzchen locker und leicht über die Lippen kommen, ohne ständige Stolperei; dass es sich gut anhört. Dann kommt Freude auf, so wie uns beim Tennis zum ersten Mal der richtige Rückhandslice gelingt, aber dann nicht nur einmal, sondern regelmäßig. Das erst macht uns zu Herren der Sprache, wenn wir sie richtig hören und artikulieren, fast mühelos, wie unsere Muttersprache. Wie viele Kinder produzieren aber am Ende der Grundschule nur Stolpersätze? Lieder sind hervorragend geeignet, fremde Artikulationen geläufig zu machen. Darüberhinaus stärkt Singen nachgewiesenermaßen das Gemeinschaftsgefühl und stimuliert die Abwehrkräfte. „Ein Schulmeister muss singen können, sonst sehe ich ihn nicht an“ (Martin Luther; siehe Lust zum Lehren, Lust zum Lernen, Kap. 7: „Sprache und Musik“)