Teil 3 Die doppelte Kombinatorik und das Janusgesicht der Sprache
Die Produktivkraft der Sprache: Unendliche
Möglichkeiten erwachsen aus endlichen Mitteln
Kehren wir zu unseren
Ausgangsfragen zurück, die wir schon zum Teil beantwortet haben: Wieso können
Menschen sich so schnell an plötzlich auftretende Herausforderungen anpassen
und neue Verhaltensweisen an nachfolgende Generationen weitergeben,
gewissermaßen am Genom vorbei? (Harari 48f.)Wie kommt es, dass allein der
Mensch dabei ist, das eigene Leben zu beschreiben, zu katalogisieren, ja zu erklären,
dazu noch so viel fremdes Leben, das sich selbst nicht kennt? Wie kommt es,
dass er sich nicht auf seinen Planeten beschränkt, sondern sich bis ins Weltall
hineindenken kann und in die Ursprünge von Raum und Zeit?
Wo immer diese Fragen
gestellt werden, wird auch die Sprache genannt.
Sprache in ihrer Doppelfunktion: Zunächst, und sehr offensichtlich, als
Verständigungsmittel. So kann alles Wissen weitergegeben werden. Neben die
biologische Evolution tritt die kulturelle, die ungleich schneller verläuft. Aber
die Sprache leistet noch viel mehr für den Aufstieg des Menschen, und zwar als Erkenntnismittel
und Schwungrad des Denkens. Ganz konkret: Wir können uns so leicht umstellen,
weil es uns unsere Sprache so leicht macht, Neues zu denken, es anders zu
denken, umzudenken, die Dinge umzudrehen, ja geradezu auf den Kopf zu stellen.
Und zwar spielerisch leicht, mühelos. Man könnte sogar meinen, zu leicht. Diese
entscheidende Fähigkeit leitet sich her aus einem Wesenszug der Sprache, den
Pinker compositionality nennt. Für ihn ist dies
das Hauptmerkmal der Menschensprache, the quintessential property, die
Eigenschaft, die sie einzigartig macht. Sie wollen wir jetzt ins Auge fassen.
Eine
geniale Erfindung der Natur, diese Zerlegbarkeit, Zusammengesetztheit und Kombinierbarkeit
der Sprache. Sie entfaltet sich auf zwei Ebenen. So kann (1) ein begrenztes
Lautrepertoire zu immer wieder neuen Wörtern kombiniert, und (2) Wörter können
zu immer wieder neuen Sätzen und Texten zusammengefügt werden. Unser sehr
präzise einsetzbarer Stimmapparat (und ein entsprechendes Hörvermögen) erlauben
es, eine gegliederte Abfolge von Lauten hervorzubringen, die wir endlos
variieren können. Für neue Dinge oder
neue Begriffe ist schnell auch eine neue Lautfolge gefunden. Genau das zeigen
uns auch schon Kinder. Sie jonglieren nicht nur mit Wörtern, sondern auch mit
Lauten. So begrüßt mich eines Morgens ein Nachbarsjunge ziemlich unvermittelt
wie folgt (und der Triumph in seiner Stimme verrät mir, dass dies mehr ist als
ein unschuldiges Spiel mit Lauten):
Herr
Butzkamm!
Herr
Schrutzkamm!
Herr
Mutzkamm!
Auch Töchterlein
Gisa will mich wohl ein wenig beeindrucken, als sie den heimkehrenden Vater so
empfängt:
Guten
Tag!
Guten
Schrag!
Guten
Lab!
Guten
Frag!
Man
bedenke, dass die Wörter einer Sprache nur aus einem Grundbaukasten von ca. 40 Lauteinheiten
entstanden sind und diese Wörter wiederum zu den riesigen und stets wachsenden
Textbeständen der Sprachen immer wieder neu kombiniert werden.
Dies ist das unerschöpfliche Spiel der Sprache,
übrigens ebenso wie das Spiel der Erbsubstanz DNS, das Spiel des Lebens, das
mit vier Buchstaben für die vier Nukleinbasen auskommt. Der digitalen Welt
genügen Nullen und Einsen. Und außerdem: Dasselbe
Prinzip waltet auch in der zweiten großen Kopfgeburt des Menschen, der Musik. Immer
wieder gelingt es, dasselbe Repertoire von Tönen phantasievoll zu immer neuen
Verbindungen und Variationen einzusetzen. So alltäglich, und doch so
staunenswert!
Im
folgenden schönen Beispiel sind die beiden Ebenen der Laute und der Grammatik
vermischt. Der Nobelpreisträger für Medizin und Physiologie Francois Jacob
erinnert sich, hier übersetzt von Gustav Roßler: »Mama, was heißt das,
anderjuselt?« – »Du sollst nicht mithören, wenn die Großen reden. Das schickt
sich nicht! Geh in den Garten spielen, mein Schatz.« Ich trotte davon, an dem
merkwürdigen Wort nagend. Anderjuselt. Andere juseln. Einen andern juseln.
Einen Mann juseln. Eine Frau juseln. Dich werd ich juseln. Warum hat er sie
gejuselt? Ich jusele. Du juselst. Er juselt. Ich juselte. Juseln wir. Juseln,
Juseln. Wusel. Andalusien. Dussel. Dusel. Dusel. Beduselt. Angeduselt. So
stapfe ich an diesem warmen Spätnachmittag über den Rasen, skandiere das Wort,
mit jedem Schritt eine Silbe ausstoßend. Ein Wort, das mir nicht bekannt war,
wiederholte ich so oft, bis ich es gleichsam gehäutet und ausgenommen hatte,
bis ich seine Silben so mannigfaltig kombiniert hatte, daß mir jede einzelne
davon eingegangen war. Die Wörter waren mir Vermittler, die mir Tore zu einer
unbekannten Welt aufstießen. Durch sie, so schien es mir, war das Leben in den
Griff zu bekommen.“
Kinder erspüren Kombinationsmuster, probieren
sie aus, ja üben sie regelrecht ein, z.B. in Einschlaf- und Aufwachmonologen Die Äußerungen haben
oft gar keinen Ansprechpartner, es sind in der Tat Monologe. Wenn Jenny morgens
aufwacht, hat es zunächst den Anschein, daß sie eine echte Frage stellt und
sich vergewissern will, ob ihre kleine Welt noch in Ordnung ist. Und dann
klingt es doch wieder so, als ob sie ein Satzmuster durchprobiert:
Ängä da? (Tante Inka)
Giki da? (Kusine Gisa)
Wauwau da? usw.
Mitteilungsfreude, Probierlust, sprachliche Experimentierlust:
Wer kann das auseinander halten?
Dabei wählen die Kinder auf ihrem Weg in die
Grammatik oft unterschiedliche Ausgangspunkte. Wobei wohl auch der Zufall
mitspielt. So dass an dieser Stelle schon die Flexibilität und Freiheit des Sprechens
und Denkens offenbar werden. Die Satzmuster werden dann schrittweise
verbessert, bis sie schließlich alle bei den korrekten Formen der Erwachsenen
landen.
Nehmen wir als Beispiel die Wo-Frage:
Gisa fragt z.B. Foxi is? Oma is? und fügt später
„wo“ hinzu: Foxi wo is? Tifte (=Stifte) wo sind? Nico fängt auch ohne „wo“ an.
Er fragt: Gisa eintlich? Meiner Eimer eintlich? Und fügt später „is“ hinzu:
Gisa eintlich is? Juri fragt: Die Mia hin? Der Papa hin? Dagegen Hilde Stern:
Apfe wo? Natz wo?
Eltern ahnen, wie
wichtig solche Musterbildung ist, und machen sie den Kindern nach oder auch vor,
wobei sie aber immer grammatisch korrekt bleiben. Ein Großvater erzählt: „Wenn
ich meinen zweijährigen Enkel zu Bett bringe, läuft das stets nach einem festen
Ritual ab: Ich bete mit ihm und zähle dann all die Spielsachen auf, die sich
vor ihm zur Ruhe begeben haben: Der rote Traktor schläft, die schwarze Kuh
schläft, der gelbe Gabelstapler schläft, der Anhänger schläft…“ Meist wirkt das
ziemlich beruhigend. Nicht so heute. Wie aus der Pistole geschossen kommt aus
dem Kinderbett: Welcher Anhänger?“ (Hermann Frisch, gefunden in der Rubrik Was
mein Leben reicher macht in Die ZEIT.)
Sprache ist ein ständiges Weiterschaffen, ist
gewissermaßen ihre eigene Erzeugung, ist energeia (Humboldt). Etwas
Neues ist »analog zu« oder »ähnlich wie« oder »geht wie« etwas Bekanntes. Das
muß aber erst probiert werden; das Neue muß sich noch bewähren, muß schließlich
von der sprachlichen Mitwelt angenommen und zurückgegeben werden. Denn die
Kinder sind immer bereit, sich zu revidieren. Das »Geht-wie« wird probiert,
solange nichts dagegen spricht. So ermöglicht das Analogiespiel jenes
»schöpferische Lernen, das zu Erkenntnissen führt, die vorher nicht dagewesen
sind.«
Das Kind schafft sich also Sprache, anstatt
bloß dem Gedächtnis zu vertrauen. Meine Lieblingsbeispiele dafür verdanke ich
meiner Tochter Gisa und meiner Enkelin Mia.
Gisa hat Saft verschüttet.
Vater: Welcher Bösewicht hat das gemacht?
Gisa: Das war ein
Liebewicht.
Mia ist gerade in die Schule gekommen. Es sind
Herbstferien, und sie ist zum ersten Mal ohne Eltern eine Woche allein bei Oma
und Opa. Opa und Mia necken sich sehr gerne.
Der Weg zum Spielplatz führt an einer mächtigen Buche vorbei, und die
Bucheckern knirschen unter unseren Schuhen. Opa: Sieh mal, die vielen
Bucheckern. Die knirschen unter unseren Füßen. So viele gibt’s nur alle 3 bis 5
Jahre. Dieses Jahr ist ein richtiges Bucheckernjahr. Mia: „Und ein echtes
Opa-ärger-Jahr.“ (Oktober 2014).
Das ist eine perfekte deutsche
Wortzusammensetzung, die es wahrscheinlich bisher noch nicht gegeben hat, die
sie wohl niemandem abgelauscht hat, also einmalig, nicht vorhersehbar. Und grammatisch korrekt. Auf Englisch würde man es anders sagen, etwa
tease-grandpa-year sagen, das Objekt Opa käme nach dem Verb, nicht davor. Im
Frz. wiederum käme als erstes das Grundwort, also Jahr, année, und dann folgt
eine nähere Bestimmung: l’année à embêter papi usw.
Wir erkennen, dass hier ein ganz anderes Prinzip am
Werk ist als in den wenigen, nicht mehr zergliederbaren Rufen der Affen: Ein
Prinzip, das Tausende und Abertausende von Formen und Fügungen bereitstellt,
die nur darauf warten, erprobt und mit Sinn gefüllt zu werden. So verlockt mich
das Wort Sprache zu Abwandlungen wie Ansprache, Zwiesprache, Absprache und
Mitsprache, die jeweils neue Perspektiven auf Sprache eröffnen. Nehmen wir
Ausdrücke wie »sich etwas erringen, erschleichen, erschwindeln«. Andere
Ausdrücke wie »sich etwas erschnorren, sich
Preise oder erste Plätze ersegeln, erspurten, erspringen bieten sich an;
sich eine Information ergoogeln« haben wir vielleicht noch nie gehört, aber
andere haben sie wohl schon gebraucht. »Sich eine Landschaft erradeln« steht wahrscheinlich
noch in keinem Wörterbuch; trotzdem verstehen wir und trauen uns auch selbst
ähnliche Neubildungen ohne weiteres zu. Zerlegbarkeit und Neuverteilung führen
zu unendlichen Möglichkeiten, die aus endlichen Mitteln erwachsen. Wörtlich:
Die Sprache muss daher von endlichen Mitteln unendlichen Gebrauch machen. Das
ist Humboldts berühmte Formulierung. Meines Wissens hat das niemand so klar
gesehen wie er.
Und genau das machen uns auch schon Kinder vor. Sie
bleiben nicht auf dem Sprachschatz, den sie mitbekommen, sitzen, sondern
treiben regelrecht Wucher damit – kraft des kombinatorischen Prinzips. Hören
wir Peters nur ihm eigene und eigentümliche Substantiv-Bildungen:
das zu-drehen = drehbare Pappscheibe (2;5)
das zu-dranmachen = Häkchen (2;9)
das zu-bouillon-reintun = Suppenkelle (2;9)
das zu-eier-rausnehmen = Schaumlöffel (2;11)
das für-die-menschen-zum-draufstellen = Korkmatte
im Badezimmer (3;8)
das zum-drehen = Bedienungsknopf am Radioapparat (4;0)
das zum-fenster-abwischen = Scheibenwischer beim
Auto (4;2)
Man sieht schön, wie der Dreijährige grammatisch
dazulernt: Aus „zu“ wird „“zum“. Und noch eins fällt auf: Wie sehr dieses Spiel
mit Lauten und Wörtern dem Hantieren mit Gegenständen gleicht. Kinder manipulieren
Sprache in ähnlicher Weise, wie sie Bauklötzchen hin- und herwenden. Sprache
ist wie ein Objekt, mit dem man herumspielen kann, und dieses Basteln mit
sprachlichen Versatzstücken ist interessant. Es ist kein blindes, rein
zufälliges Herumtasten. Es macht einen Unterschied, ob ein Klötzchen rund oder
eckig ist, ob man es stellt oder legt. Passt es in die Lücke? Ja oder nein?
Gisa versucht’s. Und nochmal. Es
klappt. Gisa klatscht in die Hände. So ist auch das
Montieren mit dem Spielzeug Sprache ein sinnvolles Erforschen und Erfahren,
das, wenn auch unbewußt, immer von der Frage begleitet ist: »Was kommt dabei heraus?«
Sollte es Zufall sein, dass Hand- und Sprechmotorik benachbarte Areale in der
linken Gehirnhälfte einnehmen?
Gegenprobe: Autismus
Das
Variieren und Neukombinieren von Sätzen ist ein Abstrahieren von einer
Situation und ein Übertragen auf andere. Wie schon bei Teil 1 und 2 dieser
Vortragsreihe gezeigt wurde, können wir aus dem Spracherwerb autistischer
Kinder ableiten, ob eine besondere geistige Leistung vorliegt, die auf eine
genetische Komponente verweist. Das
scheint auch an dieser Stelle der Fall zu sein. Weil es so schön ist,
hören wir aber zunächst noch mal dem vierjährigen Bubi zu. Der hat
kapiert, daß mause- in mausetot eine Verstärkung bedeutet und ist davon so beeindruckt, daß er
dieses Wissen jetzt auf eigene Faust anwendet:
Ich habe meine Milch mause-ausgetrunken.
Jetz ist die Eisbahn mause-alle. (die Eisbahn
ist weggetaut)
Das Wasser wird gleich mause-schmutzig sein.
(als er sich die Hände wäscht)
Mein Bauch ist ganz mause-leer, alles Essen is
raus.
Solche
Wort- und Satzvariationen kommen nun bei Autisten nicht spontan, sind also nicht
selbstverständlich, sondern müssen erarbeitet werden, oft mit sanftem Zwang und
unter Abpassung günstiger Momente. Das ist bei den autistischen Kindern Elly,
Dirk und Stefan eindeutig der Fall, über die ihre Eltern berichten.
Elly, Dirk und Stefan fanden es schwer,
Wortverbindungen oder Sätze als Muster zu erkennen, die man je nach den
Erfordernissen der Situation variieren kann und muss. Sie konnten zunächst
nicht das Gleich-Sein im Anders-Sein
erkennen, das Ähnliche an Unähnlichem wahrnehmen. Hier liegt ein Defizit, das Dirks Mutter
richtig erkannt hat. Zitat: »Dirk wusste nicht, wie er seine Wünsche
formulieren sollte. Wir konnten ihm diese Wünsche vorformulieren. Dieser Satz
stand dann aber auch nur für diese bestimmte Situation zur Verfügung und wurde
nicht selbstverständlich auf andere ähnliche Situationen übertragen.« Normale Kinder können spontan eine Fügung
variieren: von »Banane haben« gehen sie zu »Tomate haben« über, machen auch den
kleinen Sprung von Obst auf Getränke, also »Tee haben« oder auch »Buch haben«
usw., d.h., sie erzeugen zur Situation passend neue Sätze nach einem bekannten
Muster. Erst solche Verallgemeinerung und Analogiebildung machen den
Riesenkomplex Sprache überhaupt lernbar. Autisten müssen bei diesen kleinen
Gedankensprüngen systematisch unterstützt werden. Bei ihnen führt ein
eingeübter Ruf wie „Mama komm“ nicht automatisch zu „Papa komm“ oder „Heike
komm“, bis schließlich nach einigem Üben dann doch der Knoten platzt, berichtet
ein Mutter.(Anders S. 55)
Üben, beharrlich, bis der Groschen fällt, heißt die
Parole, wie gesagt, mit sanftem Zwang, und unter Abpassen günstiger Momente. Schier
unglaublich für uns Normalos, wie im Folgenden eine Familie mit ihrem
autistischen Kind um das Wörtchen „ja“ ringt:
Nun sollte der Begriff »ja« geübt werden, schreibt
die Mutter. Unser Sohn hatte bis dahin Ablehnung von Personen und
Nahrungsmitteln durch Augenzuhalten, Weglaufen, Sich wehren oder Schreien angezeigt,
aber nie die Worte »ja« oder »nein« angewendet. Nun hielt ich ihm einen
Russisch-Brot-Buchstaben hin, ein E, und fragte: »Stefan, kann man das E essen?
Sag JA.« Er griff danach, doch ich zog es zurück und sagte: »Ja, das E kann man
essen. Sag JA.« und hielt es ihm erneut
hin. Wieder griff er danach, wieder wurde
es fortgezogen. »Ja, das kann man essen. Stefan,
sag JA.« Dieses Hinhalten, Wegziehen und
Vorsprechen wiederholte sich mehrmals, bis er mit »ja« antwortete. Dann durfte er
das E essen. Anschließend wiederholte sich das Spiel mit anderen Buchstaben,
bis die Tüte leer war und er auf die Frage: »Kann man das essen?« mit »ja«
antwortete. Am nächsten Tag wurde weitergeübt. Stefan konnte zwar »ja« sagen,
bezog es aber nur auf Russisch-Brot-Buchstaben. Das zeigte sich, als ihm ein
Stück Schokolade hingehalten wurde. »Kann man das essen?« Er griff danach,
antwortete aber nicht. Erneut mußte das »ja« erarbeitet werden, anschließend
ebenfalls für Brötchen und eine Banane…Nach einer Stunde anstrengenden Lernens
unterschied er zwischen »Ja, essen« und »Nein«. Durch schrittweises geduldiges
Üben gelang es ihm nach einer Woche, die Bedeutung der Worte »ja« und »nein« zu
erfassen und sie richtig anzuwenden. »Stefan, gehen wir spazieren?« – »Ja,
pazirn«, antwortete er, aber auch »Nein, malen«, wenn er zuerst noch seine
Zeichnung zu Ende führen wollte.
Ähnlich übt die siebenjährige Elly mit ihren Eltern
drei Monate lang am »yes«. Daran, dass
das Verallgemeinern und Übertragen schon eines so einfachen Musters so schwer
fällt, merkt man, dass dieses Können keineswegs selbstverständlich ist, sondern
dass genetische Impulse mitwirken bzw. ausbleiben.
Aber nicht nur das Sprachhandeln, das Handeln
selbst zeigt merkwürdige Hemmungen.
So wird von einem autistischen Jungen berichtet,
dem man mit großer
Mühe beigebracht hatte, Brote mit Butter zu
schmieren – ohne daß er dadurch schon
in der Lage gewesen wäre, nun auch Brote mit
Erdnussbutter zu schmieren. Höchst eigenartig. Als ich
auf dieses Phänomen gleich bei mehreren autistischen Kindern stieß, anhand von
Elternberichten, war das wahrhaft blicköffnend für mich.
Die wundersame Sprachvermehrung, die Kinder
normalerweise von sich aus bewerkstelligen, indem sie Satzbaupläne abändern und
durchspielen: hier muss sie hart erarbeitet werden. Sie ist nicht
selbstverständlich. Sprachgesunde Kinder folgen nicht bloß dem Gedächtnis,
sondern schaffen sich Sprache und bilden sie fort. Nebenbei: Das ist auch der springende Punkt beim Fremdsprachenlernen. Ein
Satz muss zum Satzmuster werden, zum Rezept für viele weitere Sätze. Etwa der
Liedvers What shall we do with a drunken sailor muss zur Keimzelle unzähliger
anderer ähnlich gebauter sinnvoller, relevanter Sätze werden: What shall I do
with this book? Whose book is it? What shall
we do with our maths teacher? He sets us too much
homework. Usw. Das ist die wundersame
Sprachvermehrung durch Kombinatorik.
Es ist
letztlich die kompositorische Struktur der Sprache, die deren Stärke ausmacht
und die schon Kinder ausreizen. Wir meinen: Sie ist das unbestrittene
Alleinstellungsmerkmal der Menschensprache. Und dies hat Folgen, zu denen wir
jetzt kommen.
Freiheit des Denkens
Gott schuf den Menschen. Schuf Gott
den Menschen? Der Mensch schuf Gott. Wie bitte? Der Mensch schuf Gott? Ja, geht
auch, nicht wahr? Kann man auch sagen. Du willst reich werden und schiebst Geld
herum. Am Ende schiebt das Geld dich herum. Unsere Sprache erlaubt das Umdrehen
von Verb und Subjekt, Verb und Objekt, die Passivtransformation, das
Austauschen und Hin- und Herwenden der im Wort fixierten Sachverhalte, und so
wird die sprachliche Kombinatorik unversehens zum Schwungrad des Denkens. Es
kann natürlich auch sein, dass das Denken und unsere Fantasie die Sprache in
den Dienst nimmt. Aber ich bin mir da nicht so sicher. Beobachtungen an Kindern
legen nahe, dass es eher die bewegliche Sprache ist, die das Denken bewegt und
die Fantasie beflügelt. Sprache als
Werkstatt der Möglichkeiten. Humboldt spricht von der Identität der Gedanken-
und Spracheerzeugenden Kraft.
Hören wir, wie die Kinder herumalbern, als ich sie
im Auto vom Kindergarten abhole und Gisa ganz unvermittelt beginnt:
Gisa: Ich hab’ Hunger auf ein Haus.
Volkmar: Ich hab’ Hunger auf die Ampel.
Susi: Ich bin hungrig auf die Autobahn.
Daniela: Ich hab’ Hunger auf den Zaun.
Vater: Was seid ihr denn bloß für gefräßige Kinder!
Das kann man doch
alles nicht essen.
Gisa: Ich hab’ Hunger auf ‘n Schornsteinfeger.
Extravagant, skurril, verrückt. Die Sprache läßt
das zu, ja, sie läßt so etwas nicht nur zu, sie fordert solchen Phantasieüberschuss
geradezu heraus, inspiriert ihn. Sie weckt die Lust zu fabulieren und zu improvisieren.
Denken und Sprechen rufen sich wechselseitig auf den Plan und eröffnen dem Kind
nicht nur die erlebte, sondern auch die imaginierte Erfahrung.
Lina, 8 Jahre, sitzt am abgedeckten Frühstückstisch
und füllt unaufgefordert kleine rote Zettelchen aus, die ich später aufsammele.
In ihrer Rechtschreibung:
Ein Haus aus Rosen
Eine Tür aus Feilchen
Das Wünsch ich dir
Ein Haus aus Marzipan
Eine Tür aus Milchreis
Das Wünsch ich dir
Ein Haus aus Stupfsnäschen
Eine Tür aus Magi
Das Wünsch ich dir
Ein Haus aus Liebe
ein Tür aus Rosen
das Wünsch ich dir
ein Haus aus Linas und Mias
eine Tür aus Ruhe
das Wünsch ich dir
Welche Rolle spielt der Zufall beim Entstehen
dieser Sätze? Und welche sind davon „tauglicher“ und weiterführender als
andere? Hat nicht schon das Leben selbst eine unerschöpfliche Phantasie
bewiesen, indem es durch Variation und Kombination der immer gleichen Elemente
seines molekularen Baukastens so unterschiedliche Wesen wie Mücke, Maus und Mensch
hervorzauberte? Variation und Kombination sind auch die Weisen der Sprache, aus
Altem Neues zu machen.
Die Gegenprobe
Und wieder machen wir die Gegenprobe. Diesmal liefern
sie uns nicht Autisten, sondern Gehörlose, wenn sie ohne Gebärdensprache mühsam
in die Lautsprache hineinwachsen. Mit dreieinhalb Jahren beherrscht solch ein gehörloses
Kind durchschnittlich nicht mehr als fünf bis zehn verständlich artikulierte Wörter
und zwanzig bis hundert Mundbilder. Die Kinder gehen also fast leer aus: Ihr
Wortschatz überschreitet in diesem Fall nicht die kritische Grenze, um auch grammatisch
weiter zu kommen. Das sprachliche Durchspielen von Möglichkeiten kommt
notgedrungen zu kurz. Das mache sie unflexibel, bzw. zu »rigid thinkers“,
urteilen Experten.
Normalerweise aber entfaltet Sprache
eine Eigendynamik, die Kurt Flasch so beschreibt: „Gedanken entspringen dem
Leben. Sie kommen aus ihm hervor, springen ihm aber davon. Sie stellen sich dem
Leben gegenüber und beurteilen es. Sie sind nicht eine Funktion des vorhandenen
Lebens; sie lassen sich nicht ableiten aus der Biographie. Gedanken kommen aus Gedanken.“ Statt von Gedanken könnte man auch von Sätzen
sprechen, die uns neue Sätze, sprich Gedanken anheim legen.
Der Nein-sagen-Könner.
Man kann es eben immer auch
anders sagen – und denken. Die Sprache verlockt dazu.
In Gedanken und Worten kann man allerhand schöpferischen
Schabernack treiben, Menschen oder Dingen etwas anzaubern, sie wegzaubern, sie
älter oder jünger, dümmer oder klüger machen, auf den Kopf stellen, einfach
alles Mögliche mit ihnen anstellen. Allen voran: Man kann jede Aussage negieren und ins Gegenteil
verkehren. Das belegt die Kindersprache besonders eindrücklich.
Mutter: Wir wollen beten.
Julius (3;9): Ja.
Theodor (5;4): Ich will auch beten, schlecht beten.
Mutter: Wir wollen gut beten. (Es wird gebetet.)
Gute Nacht, Julius.
Weil die Mutter in der Regel sagt, wir wollen »gut«
beten, treibt es Theodor hier
dazu, aus Übermut, »schlecht« beten zu fordern.
Noch wehrt er sich nicht gegen
die Frömmigkeit, sondern spielt nur mit der Sprache,
meine ich. Wird er später gegen das
Beten rebellieren, weil es ihm die Sprache so
leicht macht? Kann man nicht
überall, wo jemand in der Rede ein »gut« setzt,
stattdessen »schlecht« sagen –
rein versuchshalber? Die Dinge einfach umkehren?
Ist es nicht genau diese
Möglichkeit, die den Menschen nach Scheler zum
»Neinsagenkönner« macht,
zum »ewigen Protestanten gegen alle Wirklichkeit«?
Ich erinnere mich hier an zwei Szenen: Lina kommt
morgens missgelaunt die Treppe herunter und tönt: „Keinen guten Morgen“, noch
bevor wir ihr selbst einen guten Morgen wünschen können.
Szene 2: „Tip, tip, tip, wir haben uns alle lieb“,
heisst es manchmal bei uns, wenn es zu Tisch geht. Einmal überrascht uns Juri,
als er vom Tisch aufsteht: „Tip, tip, tip, wir haben uns gar nicht lieb.“ Er sagt
es aber ohne Protest, ohne Triumph in der Stimme. Er probiert wohl einfach mal
was aus. So kann man noch Ungedachtes sagen und denken. Die Sprache legt es ja
so nahe.
Kann man die tiefschürfende Einsicht des Kölner
Philosophen mit einem Kinderscherz
in Verbindung bringen? Ja, denn das sprechende Kind
ist schon ganz Mensch. Es offenbart spielerisch die später manifest werdenden
Möglichkeiten des Menschen, z.B. sich nicht bevormunden zu lassen, nicht
zu kämpfen, nicht zurückzuschlagen, seinen erotischen Impulsen nicht
nachzugeben. In Schelers Worten: nein zu sagen und zum »Asket des Lebens«
zu werden. „Jeder Satz ist nur brauchbar, um sein Gegenteil besser zu
bedenken“, schreibt Hans Dieter Schwarze.
Und jetzt noch
was zum Schmunzeln: Walter Witt, 70 Jahre, seit zehn Jahren in Rente, zieht
abends, wenn es dunkel ist, man muss ja etwas vorsichtig sein, durch Hamburg
und schreibt einen Satz: „Die Bibel ist ein Märchenbuch.“ Immer in
Druckbuchstaben, immer mit schwarzem Edding, immer auf weiße, ungenutzte
Plakatflächen und Litfaßsäulen, damit niemand ihm Sachbeschädigung vorwirft…Aber
er hatte nicht mit einem Pfarrer
gerechnet, der in einer Predigt bekannte:
„Habe ich mir doch neulich einen Edding gekauft und in einer Nacht- und
Nebelaktion voller Bekennermut ein ‚K‘ vor das ‚ein‘ gemacht und die Aussage
ins Gegenteil verkehrt. (Spiegel online 2013) So einfach macht es uns die
Sprache, umzudenken. Unerhörte Dinge werden denkbar, weil sie so leicht sagbar
sind.
Operationsfeld Sprache: die Entdeckung des
Konjunktivs
Denken ist Probehandeln mit Hilfe der Sprache. Wenn
etwas schief geht, kann im Fall groben Irrtums die Hypothese anstelle ihres
Besitzers sterben. So eindrucksvoll formuliert
Karl Popper den Vorteil, den die Sprache den Menschen bringt.
Ich denke an Samuel, der seine Eltern löcherte mit
Fragen, die alle begannen: Was wäre, wenn…?“ Die Entdeckung des Konjunktivs! Ja, was wäre
wenn ich es anders machte … oder mal so … oder auch so …? Solche Sätze sind Denkprothesen. Damit kann man ein Vorhaben wie ein
Theaterstück beliebig oft proben und verändern,
bevor man es aufführt. Denken ist hier Vorausdenken, die Erfindung der Zukunft.
Schimpansen müssen direkt vor ein Problem gestellt
werden, um es lösen zu können. Der Mensch aber nimmt, wie Scheler erkannte,
eine »eigenartige Fernstellung« ein, eine
»Distanzierung «. Wir können an einem Problem
arbeiten, wenn und wann es uns passt, und auch immer wieder darauf
zurückkommen. Dabei stellen wir Gedankenexperimente an und lassen sie
scheitern, ohne Schaden zu nehmen, bis wir die Lösung finden und danach
handeln. Wir machen – stellvertretend für die reale Welt – die Sprache selbst
zu unserem Operationsfeld.
Das geht so weit, daß wir uns – wiederum
probehalber – sogar zu uns selbst in Widerspruch setzen können und das
Gegenteil von dem annehmen, was wir glauben. Wir können unsere Theorien kritisieren,
betont Karl Popper, und hebt die argumentative Funktion der Sprache
hervor. Wissenschaft sei Wahrheitssuche durch Kritik, die es möglich mache,
Denkergebnisse mit anderen durchzusprechen, abzuklären und sich widerlegen zu
lassen. Worte geben uns »viel freies Feld … zu übersehen, zu arbeiten, zu
nützen«, wusste schon Johann Gottfried Herder.
Eine Erkenntnis wie „das Verhältnis des
Kreisumfangs zu seinem Durchmesser beträgt ca. 3,14“ ist ohne Sprache nicht
möglich, wie überhaupt das Zählen und Rechnen. Es sei denn, die Finger an der
Hand, Kerben in einem Stock, Knoten in Schnüren reichen hin. Ein Kind muß aber
nicht erst Hunderte von Zahlwörtern gehört haben, um schließlich die
Zahlenreihe bis ins Unendliche zu beherrschen, ebenso wenig wie es alle
Uhrzeiten auswendig lernen muß. Irgendwann kommt es dahinter, daß hier ein
System vorliegt und sich etwas regelmäßig wiederholt. Es lernt – siehe wieder
Humboldt – von endlichen Mitteln
unendlichen Gebrauch zu machen und so die Zahlenreihe beliebig
weiterzubauen. Da ist sie wieder, die kompositorische Struktur der Sprache, in
durchsichtiger Form. Umstellen und
Kombinieren weniger Zeichen führen zur Darstellung unendlich vieler
Möglichkeiten.
Die dunkle Seite der Sprache
Aber: Das Reich der Freiheit ist auch das Reich der
Täuschungen, schreibt Hermann Hesse.
Das ist die Kehrseite von Freiheit und Flexibilität:
Auch Abirrung und Lüge sind Produkte der Sprache, falsche Behauptungen oder
sog. »alternative Fakten« und mit ihnen das Verschwinden der Wahrheit. Die
Unwahrheit könnte als Abwehr einer peinlichen Erinnerung, aber auch als bloße
Fortsetzung des Spiels mit der Sprache beginnen, wie hier beim kleinen Hans.
Zitat:
So erzählt mein Kind, als vom Schießen die Rede ist
und es aufmerksam zugehört hat:
»Hat mich mal einer Mann schießt« Bei ähnlichen Gelegenheiten, gewissermaßen um
auch nur die Rede in Gang zu bringen und sich an der Unterhaltung Erwachsener
zu beteiligen, erzählt er oft Dinge von sich, die absolut lächerlich sind und
deren Unwahrheit auch für ihn selbst auf der Hand liegen müssen. Und das thut
Hans ohne jede Scheu.
„Gewissermaßen um auch nur die Rede in Gang zu
bringen und sich zu beteiligen,“ heißt
es, also einfach nur mal so, nicht eigentlich ein Produkt des Nachdenkens.
Später kann aus solchem Spiel bewusste Fälschung, auch Selbstbetrug entstehen.
»Worte«, so warnt Jaspers, »sind in ihrem Sinne unendlich beweglich, ständig
metaphorisch bezogen und neu beziehbar, nie selber ein letztes Fundament.« Sprache ist im Guten wie im Bösen, nicht
jenseits davon. Zu leicht erliegen wir der Illusion der Namen, als ob ein Wort schon
dafür bürge, daß eine Erfahrung dahintersteht. Wir vergessen, wie sehr wir in
einer bloßen Wortwelt leben. Wir fragen zu wenig, ob für das Wortgeld, das wir
tauschen, eine reale Deckung besteht.
Wörter können das Denken führen und verführen. Erst
schafft sich der Mensch die Sprache; dann muß er hinnehmen, daß sie sich auch
gegen ihn kehren kann: Wortgespinste – Hirngespinste. Sprache ist auch die
Kunst der Verstellung – und der Ort, an dem der Mensch uferlos Unsinn
produziert. Kein Tier, so dürfen wir annehmen, quält sich mit krankhaften,
finsteren, abgründigen Phantasien, keines fürchtet
sich vor Hexen und Dämonen. Die Möglichkeit, über die reale Welt
hinauszudenken, führt zu wissenschaftlichen
Entdeckungen und gebiert zugleich Ungeheuer. Die
Ungeheuer des frenetischen Sieg-Heil Gebrülls, der Massenhysterie, der
kollektiven Triebentladung. So ist Sprache auch das Instrument der Demagogie,
der Indoktrination und Manipulation.
Das Janusgesicht der Sprache: Glanz und Elend des
Menschen
Das ist das Janusgesicht der Sprache, ihre
Doppelnatur. Diese wird oft beschworen, meist aber nur in dem Sinne, dass sie einerseits den Zusammenhalt sichert, also
den gesellschaftlichen Kitt liefert, andererseits aber Abgrenzung zementiert und die Menschen trennt.
Ich gehe da etwas weiter. Denn in und mit der Sprache können wir uns aus
Irrtümern heraus-, aber auch in sie hineinarbeiten. Und so gestatte ich mir zum Schluß einige
gesellschaftskritische Anmerkungen, die mich seit langem bewegen und die sich weit
vom Thema Sprache entfernen.
Unser Sprachvermögen verhilft dem Menschen ja nicht
nur, sich in der Welt zu behaupten, sondern auch, sich die Welt unter den Nagel
zu reißen, verhilft ihm zum von Wissenschaft, Technik und Kapital planetarisch
organisierten Raubbau und damit seine eigene Vernichtung zu betreiben. Auch
dahin hat uns unser Forschergeist, der sich bei Kleinkindern so positiv zeigt,
gebracht. Gewiss, dieses Trio – Wissenschaft – Technik – Kapital – hat uns
ungeahnten Wohlstand, Wohlstand sondergleichen, gebracht, und ungezählte
Bequemlichkeiten, an denen wir kleben. Der
Wirtschaftswissenschaftler Meinhard Miegel urteilt: „Die Völker der
frühindustrialisierten Länder sind sowohl im historischen als auch im
internationalen Vergleich reich, so reich, wie Völker noch nie waren, und zwar
nicht nur Minderheiten innerhalb derselben, sondern die breite Mehrheit und aus
globaler Sicht sogar alle.“ Aber wie unser Sprachvermögen, das all unser Tun
durchwirkt, hat auch unser Wirtschaften,
so meine ich, ihre Kehrseite. Deshalb teile ich auch nicht die christliche
Auffassung von einer abgeschlossenen Schöpfung und dem Menschen als ihren
krönenden Abschluss. Das wäre doch jammerschade. Wir haben Vorläufer und sind
selbst Vorläufer, sind Wesen des Übergangs, so Hoimar von Ditfurth. Die Evolution geht weiter, und wir hoffen, in Richtung
von noch mehr Geist, Klarheit, Nachdenklichkeit, in Richtung einer noch höheren
Ordnung. In Richtung auf einen besseren Menschen, ja einen Nachfahren, der das
Menschsein, seine Friedlosigkeit und Unvernunft, hinter sich gelassen hat. Wir sind nicht das
letzte Wort (wieso eigentlich?), sondern ein Glied in einer Kette, die mit dem
Urknall ihren Anfang nimmt. Das wäre der Sinn unseres Lebens, Glied in einer
Kette sein, die nicht abreißen darf,
weil sie zu Besserem, Höherem führen könnte. Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts
ganz Gerades gezimmert werden, meinte Kant. Wir haben steinzeitliche Gefühle, mittelalterliche
Institutionen und eine gottgleiche Wissenschaft
und Technik, fasste es der Biologe E. O. Wilson zusammen. Wir sind keine
Vernunftwesen, aber schon der Vernunft fähige. Wir sind keine friedfertigen
Wesen, aber schon friedensfähige. Auf lange Sicht sollten wir uns zu höheren
Wesen emporentwickeln und von ihnen abgelöst werden. Ein tröstlicher Gedanke,
irgendwie.