Das Muttersprachenparadox

Eine der größten Herausforderungen für Fremdsprachenlehrer besteht darin, den Unterricht in der Fremdsprache durchzuführen. Jahrzehntelang haben die Richtlinien der Kultusbehörden dieses Sprachbad schaffen wollen, indem sie unisono die Einsprachigkeit des Unterrichts (mit einigen Abstrichen) einforderten. Genau das war der falsche Weg.

Er wurde eingeschlagen unter dem Eindruck des allzu freizügigen und regellosen Gebrauchs der Muttersprache. Die Frage war stets, wie man die Muttersprache zurückdrängt und es erreicht, dass so viel wie möglich in der Fremdsprache und durch sie unterrichtet wird. Wenn es aber stimmt, dass man eine Fremdsprache nur auf dem Boden einer erworbenen, natürlich gewachsenen, gelebten Sprache lernen kann, wenn es stimmt, dass die hier geschaffenen kognitiven Grundlagen das Lernen einer Fremdsprache überhaupt erst ermöglichen, stellt sich noch eine andere Frage: Wie kann man optimal an diese Grundlagen anknüpfen? Wie kann man erworbene Fähigkeiten und Fertigkeiten für die Fremdsprache fruchtbar machen?

Beide Fragen erscheinen mir gleich berechtigt. Der Paradigmenwechsel bedeutet, auf den Punkt gebracht, dass nunmehr auch die zweite Frage ernsthaft gestellt wird und Antworten auf beide Fragen gesucht und miteinander verrechnet werden. Die Muttersprache gilt nicht wie bisher bloß als Störfaktor (der auszuschalten ist) oder Nothelfer (der geduldet wird), vielmehr müssen auch längst erprobte, ausgereifte bilinguale Arbeitsformen (u.a. Sandwichtechnik, muttersprachliche Spiegelung, bilinguale Strukturübungen, zweisprachige Lektüren in verschiedenen Formaten) in den Blick genommen werden. Es gilt, die Muttersprache (manchmal ist es heute eine natürlich gewachsene Zweitsprache, die u.U. stärker als die Muttersprache ist) nicht bloß hier und da zu „erlauben“. Es klingt paradox, aber wir müssen verstehen, dass gerade bei gezielter Mithilfe der Muttersprache die Fremdsprache als Arbeitssprache besser durchgesetzt werden kann.

Kleine Chronologie

1978
Dodsons bilingualer Ansatz “verlässt den Grund, auf dem die bisherige Sprachlehrmethodik ruhte. Ein ‘Paradigmenwechsel’ hat stattgefunden. “ (W. Butzkamm, Aufgeklärte Einsprachigkeit… 21978, 184.)

2002
„Es ist ein Trauerspiel, mit ansehen zu müssen, wie noch immer die traditionelle Einsprachigkeit in Richtlinien und Lehrbüchern verankert ist. Die Muttersprache gilt weiterhin als der Störsender, den man möglichst abschalten sollte. Dass sie auch der stärkste Verbündete der Fremdsprachen sein kann, wird nicht gesehen und nicht genutzt…Meinetwegen kann ja die Wahrheit warten, denn, so tröstet Schopenhauer, ‚sie hat ein langes Leben vor sich‘. Aber was ist mit den Schülern von heute? Ihretwegen sollte sich die scientific community endlich von einem fundamentalen Irrtum befreien und die mehr als zweitausendjährige Allianz von Muttersprache und Fremdsprache wieder herstellen.“ (W. Butzkamm, Psycholinguistik des Fremdsprachenunterrichts, 32002, S.XIV)

2004
„Die Zeit ist reif für eine neue Synthese…die bilinguale Revolution findet statt.“
(W. Butzkamm, Lust zum Lehren, Lust zum Lernen, 2004, S. 2)

2009
“Making the mother tongue the corner stone in the architecture of FLT is a true paradigm shift.” (Butzkamm & Caldwell, p. 15)

2011
“We live in interesting times: having lived through one paradigm shift, I now have the feeling this book marks the start of another.“ A. Maley, Review of Translation in Language Teaching: an argument for reassessment by G. Cook. ELT Journal 65.2, 192–193.

2012
„If their proposals are implemented, it will be a true paradigm shift.“ P. Scheffler, in his review of Butzkamm & Caldwell (ELT Journal 66/1, 2012. p. 119).

2012
„The way is open for a major paradigm shift in language teaching and learning“.
G. Hall & G. Cook, state-of- the-art article: „Own language use in language teaching and learning“ (Language Teaching, 45/2012, p. 299). Die Zeitschrift Language Teaching wird sowohl im Arts & Humanities Citation Index als auch im Social Sciences Citation Index gelistet.

Damit scheint die Zeit „der Zugeständnisse und der kleinen Korrekturen“ (Karl Popper) endgültig vorbei. Das Prinzip der Einsprachigkeit muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Denn nur auf dem festen Untergrund einer gewachsenen Sprache können wir uns einer Fremdsprache nähern.

Caveat: Der bilinguale Ansatz ist kein Freibrief für die hemmungslose Verwendung der Muttersprache. Es geht immer um die Kombination zielführender bilingualer Arbeitsformen (u.a. die Sandwichtechnik, muttersprachliche Spiegelung, bilinguale Strukturübungen) mit bewährten einsprachigen in einem prinzipiell fremdsprachig geführten Unterricht. Außerdem geht der Anteil bilingualer Arbeitsformen zurück, je kompetenter die Sprecher werden – so wie alle methodische Raffinesse sich schließlich selbst überflüssig macht. Wir übersetzen gewissermaßen, um vom Übersetzen los zu kommen – etwa so, wie mir mein russischer Dolmetscher bei einem Vortrag in Moskau (2002) berichtete: „Manchmal wollte ich die genaue russische Entsprechung für einen neuen Ausdruck wissen, aber mein Deutschlehrer setzte meist zu einer langen deutschen Erklärung an, die mich nur ablenkte. Ich wollte es genau wissen, um dann den neuen Ausdruck sofort richtig gebrauchen zu können.