Mein Weg zur „Aufgeklärten Einsprachigkeit“

Wir alle haben eine Geschichte, ja wir sind eine Geschichte.  Ich erzähle Ihnen meine Geschichte als Fremdsprachenlehrer. Es ist die Geschichte einer Entdeckung.

Student in Münster

Heimgekehrt aus den USA mit einem amerikanischen B.A.im Gepäck  konnte ich am Auslandsamt der Uni Münster einen Anfängerkurs Deutsch als Fremdsprache übernehmen. Vorgeschrieben war ein broschiertes Büchlein der Bénédict- Methode. Also direkte Methode, Berlitz-Methode in Reinkultur. Teilnehmer waren hochmotivierte Studenten aus verschiedenen Ländern, die ihr Fachstudium beginnen wollten.  Mit ihnen segelte ich irgendwie über die Klippen der absoluten Einsprachigkeit hinweg.  Diese wird aber heute noch in Bénédict-Schulen und Berlitz-Schulen propagiert. „Es erben sich Gesetz und Rechte / wie eine ewge Krankheit fort…“ Wie recht er hat, der Altmeister.

Studienrat am Gymnasium

Als ich anfing, in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als Studienrat an einem Gymnasium in einer deutschen Kleinstadt, galt das Prinzip der gemäßigten Einsprachigkeit. Die neuen Texte einer Lektion bot ich in einer Art Erzählung dar, in die ich die Schüler mit Rückfragen einbezog. Nur gelegentlich nahm ich die Muttersprache zur Erklärung weniger, besonders schwieriger Wörter zu Hilfe. Das war auch offiziell erlaubt. Es gab auch ein nach Lektionen geordnetes zweisprachiges Vokabelverzeichnis am Ende des Buches. Es galt also nicht die absolute, sondern ein gemäßigtes Prinzip der Einsprachigkeit, mit dem ich gut zurechtkam und von dem ich überzeugt war. Ich freute mich auf den Unterricht mit den Anfangsklassen, die sich ebenfalls auf Englisch, ihre erste Fremdsprache, freuten.

Ich erinnere mich noch gut an einen Text über ein Seifenkisten-Rennen (The Soap-box Race. Learning English. A1 neu. Klett-Verlag 1965). Ich bedeckte die ganze Tafel mit einer Zeichnung der Rennstrecke vom Startplatz bis zum Ziel, mit Zuschauern als Strichmännchen usw. Da waren mit einem Schlag gleich zwanzig neue Vokabeln eingeführt. Ich freute mich über meine Findigkeit beim Erklären von Vokabeln. Ein kleines intellektuelles Vergnügen, wenn es  die Schüler kapierten. Zu der Zeit war mein Englisch makellos. Ich hatte ein Jahr an einem amerikanischen College studiert  und ein weiteres Jahr an einer Londoner grammar school Deutsch unterrichtet. Ich dachte nicht weiter darüber nach, dass meine erfolgreiche einsprachige Textdarbietung  nur eine äußere Einsprachigkeit war, im Grunde aber eine verkappte Zweisprachigkeit. Wenn ich ein wheel zeichnete, funkte es im Schülerhirn: Aha, ein Rad. Diese stille Präsenz der Muttersprache ist heute experimentell nachweisbar. Außerdem gab es ja noch das zweisprachige Wörterverzeichnis, und  ich merkte, dass sich gerade die besten Schüler den neuen Text mit Hilfe der Vokabelgleichungen schon vorher angesehen hatten. Nicht dass diese Schüler im Unterricht unbedingt glänzen wollten; eine neue Lehrbuchgeschichte schien sie einfach zu interessieren, jedenfalls viel mehr als der Übungsteil, der regelmäßig darauf folgte.  Damals war es ja noch eine Geschichte, mit der ein Kapitel eröffnet wurde. Bei der Grammatik gab es solche freiwillige Vorarbeit der Schüler wohl nicht.

Studienrat an der Gesamtschule

Dann wechselte ich zu einer Gesamtschule, einer der ersten des Landes. Die Schule war  im Aufbau und wir fingen gleich mit vierzehn fünften Klassen an, von denen ich vier im Fach Englisch übernahm. Damals wurde an den Gesamtschulen viel Neues versucht. So erprobten wir gleich drei verschiedene Lehrwerke, u.a. ein audiovisuelles, aus Frankreich importiertes, das strikt einsprachig verfuhr und kein deutsches Wort enthielt. Stattdessen gab es textbegleitende Bildstreifen im Buch und als Dias zur Projektion. Just zur gleichen Zeit stieß ich über Prof. Helmut Heuer, der den Gesamtschulversuch wissenschaftlich begleitete,  auf das Buch Language teaching and the bilingual method von C.J. Dodson, in dem das genaue Gegenteil propagiert wurde, nämlich die regelmäßige, gezielte Zuhilfenahme der Muttersprache in sorgfältig ausgearbeiteten, teilweise experimentell überprüften Techniken. Dies war für mich einer der bedeutsamen lebensgeschichtlichen Zufälle, die Weichen stellen.

Denn drei Dinge kamen zusammen. Erstens, ich hatte neue Schüler, in der Mehrheit solche, die es auf dem Gymnasium nie geschafft hätten. Diese reagieren aber besonders empfindlich auf methodische Fehler, wie ich schon bald merkte. Sie würden z.B. eine Vorgehensweise, die nicht alle natürlichen Lernressourcen ausschöpft, weder durch häuslichen Fleiß noch durch  Mithilfe der Eltern ausbügeln. Zweitens war ich in einer idealen Versuchssituation. Ich hatte vier Parallelklassen, vier Anfängerklassen gleichen Niveaus, in denen ich den gleichen Lernstoff immer wieder anders darbieten konnte. Drittens hatte ich drei verschiedene, deutlich konturierte Praktiken, die ich erproben und miteinander vergleichen konnte. Zunächst die mir schon bekannte sog. vermittelnde Methode, die compromise method der gymnasialen Lehrwerke, in der ich ausgebildet worden war. Dann zwei funkelnagelneue, die sich klar wechselseitig ausschlossen:  die audiovisuelle, absolut einsprachige des importierten Lehrwerks und Dodsons bilingual method, eine mit ausgefeilten muttersprachlichen Lehrtechniken. Was funktionierte in diesen Gesamtschulklassen am besten?

Eindeutiger Sieger war Dodsons bilinguale Methode. Etwas pathetisch gesagt: Das war die bislang verborgene Wahrheit, die sich auf einmal zeigt, obwohl sie doch schon immer da war.

Hochschullehrer an PH und Uni

Im Nachhinein, als Hochschullehrer, d.h. nach dem Studium der psycholinguistischen Gesetzmäßigkeiten des Spracherwerbs, nach dem Studium der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts, nach der Besichtigung der empirischen Datenlage – ist es für mich geradezu ein Skandal, dass ein absolut einsprachiges Lehrwerk offiziell für Schulen empfohlen und propagiert wurde. Heute noch sind in Ländern ohne eigene starke Schulbuchverlage solche völlig einsprachigen Lehrwerke in Gebrauch, Bücher, die zum Schaden der Schüler die Fremdsprache ohne jeden Bezug zur Muttersprache der Schüler darbieten. Eine natürlich erworbene Sprache – die Muttersprache oder eine dominant werdende gewachsene Zweitsprache – ist das Fundament, auf dem jeder schulische Fremdsprachenwerb ruht. Sie ist immer schon da. So tun, als ob sie nicht da wäre und auf ihre Mithilfe zu verzichten, ist ein grober Irrtum, der viele lernschwache Schüler unnötig scheitern lässt. Das oben angezeigte Buch Klassengespräche dokumentiert meinen Unterricht nach der bilingualen Methode am Inda-Gymnasium Aachen-Kornelimünster 1974 – 1976, den ich neben meiner Aufgabe an der PH erteilt habe.

Theoretiker: Die fünffache Mitgift der Muttersprache

Dies ist die Theorie des bilingualen Ansatzes in aller Kürze: Noch vor der Muttersprache, dann aber In ihr, mit ihr  und durch sie haben wir (1) zu allererst kommunizieren gelernt. Wir sind soziale Wesen. Sprache entsteht zwischen den Menschen. Und immer spricht der Körper mit.  Das ist der Ursprung. (2) Kommunizierend  haben wir unser Denken fortentwickelt und die Welt auf den Begriff gebracht; (3) Kommunizierend  haben wir unsere Stimme entwickelt und artikulieren gelernt; (4) Kommunizierend haben wir eine grammatische Grundordnung und das Prinzip der Sprachkombinatorik intuitiv zu erfassen gelernt; (5) und wir haben – nicht immer, aber sehr oft –  die sekundären Fertigkeiten des Lesens und Schreibens erlernt. Das ist die fünffache Mitgift der Muttersprache. Dieses Geprägt- und Schon- Informiertsein, d.h. die umgreifende, in der Erstsprache heranreifende Sprachlichkeit des Menschen, ist das Fundament unserer Selbstwerdung und der größte Aktivposten des Fremdsprachenlerners. Die Muttersprache (einschließlich anderer, wie Muttersprachen früh erworbener, gewachsener Sprachen) ist darum das Instrument zur Erschließung fremder Sprachen, ihrer Bedeutungen, ihrer grammatischen Formen und Funktionen, der Dechiffrierschlüssel, der den schnellsten, den sichersten, den genauesten und vollständigsten Zugang zur Fremdsprache bildet –  bis diese sich zunehmend selbst weiterbauen kann.

Ehrenamtler – Spracharbeit mit Migranten

Heute bin ich ehrenamtlich für Flüchtlinge tätig und erfahre immer wieder aufs Neue, wie wertvoll die Mithilfe der Muttersprache besonders bei Sprachen sein kann, die mit der unseren kaum ein Wort gemein haben (Tigrinisch, Twi, Somali…). Die Verwandtschaft der üblichen Schulsprachen wie Englisch, Deutsch, Französisch, Spanisch (die besonders als gedruckter Text  deutlich wird) hat uns blind gemacht für die unabweisbare Tatsache, dass die Muttersprache die unbefragte Voraussetzung jeglichen Fremdspracherwerbs ist. Es ist ein Skandal, dass sich diese Erkenntnis nur langsam durchsetzt, viel zu langsam für die vielen, die mit wirklich fremden, sperrigen Muttersprachen aus anderen Kulturkreisen zu uns kommen und bei uns überleben wollen. Aufklärung ist also weiterhin angesagt. Sie darf nicht sterben! Matthias F. schreibt mir aus der Schule: „Bei meinen Interviews habe ich mich stets auf Klasse 4 bzw. 5 bezogen und durchweg festgestellt, dass ein fast ausschließlich einsprachig geführter Unterricht nach wie vor das Maß aller Dinge bei den Befragten zu sein scheint.“ (Email 20.2.2017)

Der erfolgreiche Berliner Deutschtrainer Michael Schmitz (siehe smarterGerman.com), der in der Regel Schüler hat, die schon Englisch können, schreibt ironisch: „I would never use a word of English in my lessons. What a horrible thought that the learner might actually understand everything I say.“ Die Berlitzerei ist didaktischer Schwachsinn.

Ehrenamtler – Englisch-AG in der Grundschule

Seit mehreren Jahren gebe ich eine Wochenstunde Englisch für Viertklässler und freue mich, dass ich das noch kann. Auf dem Programm stehen Dialoge, d.h. spielbare Sketche und Songs. Beide Textsorten lassen sich am besten mit Hilfe der Sandwich-Technik vermitteln. Bei Songs wie Let it be oder We are the world, we are the children, die wir 2018 gesungen haben, ginge das gar nicht ohne Übersetzungen. In diesem Jahr will ich einige Forderungen aus der Fridays- for- future Bewegung einbringen. Hingegen geht Einsprachigkeit auf dieser Stufe eindeutig auf Kosten ansprechender und anspruchsvoller Inhalte.

2 Gedanken zu „Mein Weg zur „Aufgeklärten Einsprachigkeit““

  1. Lieber Herr Dr. Butzkamm,
    das Auffinden ihrer Website am heutigen Morgen war eine Offenbarung für mich in vielerlei Hinsicht!
    Sie können Sich nicht vorstellen (oder doch) wie sie mir als Fremdsprachdidaktiker aus der Seele gesprochen haben. Ich bin Englischlehrerin an einer Waldorfschule. Dort unterrichte ich seit 6 Jahren. Vorher war ich bei Inlingua tätig, in der Erwachsenenbildung, in kleinen Sprachschulen und ganz am Anfang meines Unterrichtens arbeitete ich in einer Highschool in den USA. Ich frage mich seit Jahren, warum die vielversprechensten Methoden (Waldorfpädagogik und auch die Berlitz Methode) so viel versprechen zu dem sie die Schüler befähigen sollen und so wenig halten. Alle sind der Einsprachigkeit verschrieben. Ich musste die Inlingue Sprachschule sogar verlassen, aufgrund der Tatsache, dass ich deutsche Muttersprachlerin bin, die zwar perfekt Englisch spricht, aber eben keine Muttersprachlerin ist. Die Manager in den Firmen hätten ausdrücklich nur Muttersprachler gebucht. Nach mir wurden Inder und Amerikaner eingestellt. Sie konnten die Sprache zwar sprechen, aber nicht erklären. Dies führte widerum zu Problemen. Aber zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich dann schon an der waldorfschule, die das mothering und den einsprachigen Unterricht sehr groß schreibt. NUR: Entspricht es eben nicht meiner Unterrichtserfahrung. Die waldorfschule bietet ja recht viel Freiraum und so experimentiere ich schon 2 Jahre lang mit der Birkenbiehl Methode und konnte eben feststellen, dass, wenn die Schüler die Wort-zu-Wort Brücke in die Muttersprache haben, sich noch einmal eine ganz neue Dimension für sie eröffnet. Besonders für die Schwächeren. Seitdem gebe ich auch Bücher, die ich in der Klasse auf Englich lesen möchte, vorher schon auf Deutsch heraus an die Schwächeren. Was konnte ich mir von Kollegen und auf Elternabenden schon deswegen anhören!!! Wie? Sie benutzen im Unterricht auch Deutsch? Pfui! Da lernen die Schüler ja gar kein richtiges Englisch bei Ihnen. Nun ist es in der Realität aber so, dass es in meinem Fall sicherlich nicht an einer mangelnden Sprachkompetenz liegt, dass ich mit den Schülern nicht permanent Englisch rede und obwohl ich auch Deutsch rede, meine Schüler fast immer über die Jahre hinweg eine sehr gute Aussprache bei mir lernen. Was ich also im Beruf , in der Praxis, entdeckte (und mich dafür oft schlecht fühlte), entspricht ihrer Forschungstätigkeit. Wie fühlte ich mich befreit, als ich ihr zitiertes Beispiel des Lehrers las, der zu seinen Schülern sagt :“ Ich sage es Euch jetzt auf Deutsch, da es wichtig ist. “ That’s me! Ertappt! Genauo benutze ich fälschlicherweise oft die Sprache.
    Ich bin gerade am Zeugnisschreiben, was bekanntlich bei Waldorflehrern Tage und Wochen dauert, da es ja Wortzeugnisse sind. Nebenbei lese ich also immer einmal in den Pausen zu meiner Ablenkung ein bisschen Sprachdidaktisches. Welch GlücK! Gleich nach der Fertigstellung meiner Zeugnisse werde ich mir ihre Website vornehmen und alles darüber lesen, was ich in Erfahrung bringen kann.
    Danke, dass sie sich dieser Arbeit verschrieben haben. Auf zum Paradigmenwechsel! (PS: Das Buch zum Paradigmenwechsel von Thomas Kuhn habe ich aufmerksam gelesen…. Es wird wohl noch eine Weile dauern). Fangen wir heute damit an!
    Herzlichst grüße ich Sie aus Dresden,
    JP

  2. Danke für den aufschlußreichen Bericht. Man fragt sich, warum Berlitzschulen, Bénédictschulen, Inlingua usw. so verfahren und Muttersprachler wollen. Die Antwort ist einfach. Immer wieder wird von Lehrern berichtet, die Fremdsprachen unterrichten, ohne sie wirklich zu beherrschen. Traurig, aber wahr. Mein letzter Fund steht bei J. Meyerhoff, der als 17jähriger Austauschschüler nach Wyoming kommt: „Das Deutsch der Deutschlehrerin war erbärmlich.“ (Alle Toten fliegen hoch. Amerika. 2011, S. 149). Da geht man auf Nummer sicher und schüttet zugleich das Baby mit dem Badewasser aus. Siehe auch das Ergebnis meiner Befragung ehemaliger Gymnasiasten und Gesamtschüler. („Sind Muttersprachler die besseren Fremdsprachenlehrer“ in: Der Lehrer ist unsere Chance, 2005, S. 91)

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