Über den Irrtum in den Wissenschaften

Wie ist es möglich, dass man sich so lange und so grundsätzlich in einem so wichtigen Punkt wie der Mithilfe der Muttersprache geirrt hat? Dass man ein zentrales Prinzip wie das generative Prinzip schlicht übersieht? Schließlich ist die Fremdsprachendidaktik eine akademische Disziplin mit Professoren, die zur Forschung verpflichtet sind.

Schopenhauer:

„Ein neuer Gedanke wird zuerst verlacht, dann bekämpft, bis er nach längerer Zeit als selbstverständlich gilt.“

„Die Wahrheit kann warten: denn sie hat ein langes Leben vor sich.“

Dass man eine von Kathedern verkündete Lehrmeinung über den Haufen werfen musste, ist in der Wissenschaftsgeschichte nichts Besonderes. „Nun hat man lange aus dem Erfolg der Wissenschaften auch das Bild ihrer Geschichte gewonnen: Man stellte sie sich als stetige Akkumulation von immer mehr Wahrheiten vor, so wie durch die Entdeckung der Erde immer mehr Land erforscht wurde. Bis Thomas Kuhn kam, der Wissenschaftshistoriker. Bei seinen Untersuchungen fiel ihm auf, dass die Wissenschaften auch ziemlichen Mumpitz produziert hatten und dass die Widerlegung des Mumpitzes auch zu ihrem Fortschritt beigetragen hatte.“ (Dietrich Schwanitz in Bildung, S. 362) „Der Fortschritt setzt ein, weil sich jemand findet, der bereit ist, eine unpopuläre, lächerliche, eine absurde Theorie ernst zu nehmen und die Welt in ihrem Lichte zu sehen.“ (Paul Feyerabend)

Ein paar Beispiele von zahllosen Irrtümern, die eine Zeitlang die vorherrschende Lehrmeinung darstellten:

(1) Lange Zeit galten Babies als hilflose reflexbündel und als unbeschriebenes Blatt (blank slate). heute spricht man vom „kompetenten Säugling“.

(2) Lange Zeit galt, der Werkzeuggebrauch sei allein Sache des Menschen. Dadurch sollte er sich von  den Tieren unterscheiden. Heute weiß jeder etwas über die Intelligenz der Affen. Es gibt tonnenweise Literatur über intelligenten Werkzeuggebrauch bei Affen wie auch bei Vögeln, auch heimischen Vögel wie den Krähen. Das hätte man alles schon früher wissen können, wenn man nur hingeschaut hätte. Oder auch mal Vogelliebhabern, also Laien, Nicht-Wissenschaftlern, zugehört hätte. Das hat man einfach nicht getan.

(3) Noch zu meiner Studienzeit wurde die Sapir-Whorf-Hypothese des linguistischen Determinismus mehr oder weniger kritiklos tradiert: So viele Wörter für Schnee bei den Eskimos usw. (in der Literatur wurden es immer mehr, da wurde regelrecht geschwindelt). Dahinter steckt die Idee von der das Denken prägenden, ja bestimmenden Kraft der Sprache, die Idee von der Tyrannei der Wörter, von den in Wörtern versteckten Denkvorschriften. Die so offenbare Tatsache, dass man solche Denkvorgaben einzelner Wörter in Texten jederzeit überspielen kann, wurde schlicht ignoriert.  Kann man nicht wunderbare feministische Traktate in einer Sprache schreiben, die an vielen Stellen die historische Vorherrschaft des Mannes spiegelt? (Butzkamm & Butzkamm 2008, 287ff.)

(4) Schwerwiegend sind die z.T. grotesken Irrtümer der Psychoanalytiker, weil sie für ihre Patienten böse Folgen hatten. So gaben sie den Müttern die Schuld für den Autismus ihrer Kinder („eiskalte Mütter“), bestraften sie somit doppelt, und glaubten, mit ihren Redekuren auch homosexuelle Neigungen bekämpfen zu können. Schwangerschaftsübelkeit, so Freud, sei der geheime Wunsch der Mutter, das Baby abzutreiben (es – symbolisch, versteht sich – auszukotzen…). Schizophrenie wurde als Kernneurose umettikettiert und behandelt, wobei die Hinweise auf genetische Ursachen außer Acht gelassen wurden. Dabei haben sich die Psychoanalytiker besonders gut gegen jede Kritik abgeschottet. Wer anderer Meinung war als sie, sei typisches Opfer einer  „Verdrängung“.

(5) Am spektakulärsten wohl der Fall des Egas Moniz, der Schizophrenen helfen wollte, indem er die Nervenbahnen im Frontallappen durchtrennte (=Lobotomie), und der dafür den Nobelpreis bekam. In der Folge wurden Tausenden von Schizophrenen das Gehirn zerschnitten – ohne Heilungserfolg.

(6) Esther Duflo und Abhijit Banerjee am MIT, die über Entwicklungshilfe forschen, bezeugen: „Jedesmal, wenn wir etwas herausgefunden haben, gibt es jemand, der es total einleuchtend findet. Erstaunlicherweise fand es am Anfang niemand einleuchtend.“ (Die ZEIT 1.9.2011). Manche sind eher bereit, Fakten schlicht zu bestreiten, als vorgefasste Meinungen zu korrigieren.

John Stuart Mill gegen den Despotismus des Dogmas, gegen die Tyrannei des vorherrschenden Meinens und Empfindens: “There needs protection also against the tyranny of the prevailing opinion and feeling, against the tendency of society to impose, by other means than civil penalties, its own ideas and practices as rules of conduct on those who dissent from them; to fetter the development and, if possible, prevent the formation of any individuality not in harmony with its ways, and compel all characters to fashion themselves upon the model of its own. There is a limit to the legitimate interference of collective opinion with individual independence; and to find that limit, and maintain it against encroachment, is as indispensable to a good condition of human affairs as protection against political despotism. “

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