Praxistaugliche Wissenschaft

Ich fragte einen Kollegen, Prof. Dr. Sowieso, der auch Englischlehrer ausbildet, mit didaktischem Schwerpunkt: „Wann haben Sie denn zuletzt eine Englischstunde gegeben?“  „Wieso?“ Dann Schweigen. „Da muss ich nachdenken.“ Ich fragte einen Chirurgen, Prof. Dr. Sowieso,  der an der Uniklinik Mediziner ausbildet: „Wann haben Sie zuletzt einen Patienten behandelt?“ „Wieso? Heute morgen noch!“ Merke: Warum die Medizin Fortschritte macht, und die Pädagogik nicht, hat nicht nur damit zu tun, dass ungleich mehr Forschungsgelder in die Medizin als in die Unterrichtsforschung fließen. Grau is’ alle Theorie, grün is nur auf‘m Platz. (Fussballweisheit)

Neue Konzeptionen sollten  sich fortan  über konkrete Lehrtechniken definieren. Griffige Schlagworte wie Handlungsorientierung oder Konstruktivismus sind zwar nach wie vor unverzichtbar. Wer sie gebraucht, sollte jedoch durch konkrete Einzeltechniken erklären, was er genau meint, und damit auch nachweisen, ob er wirklich der Praxis Neues bringt oder – auch das wäre eine Leistung – bekannte Arbeitsformen besser verständlich macht und tiefer verankert. Oder aber nur alten Wein in neue Schläuche abfüllt. Wer nicht das Gerippe der Theorie mit dem Fleisch der Praxis auskleidet, auf den sollte man in unserer Wissenschaft gar nicht erst hören. Ist der Konstruktivismus in der Tat „ein neues Paradigma in der Fremdsprachendidaktik“, wie behauptet? Nicht im Geringsten. Längst Bekanntes wird umdefiniert und für den neuen Begriff reklamiert, z.B. der bilinguale Sachfachunterricht und das „autonome Lernen“. Der bilinguale Sachfachunterricht ist m.E. jedoch hinreichend begründet einmal durch das Mehr an Kontaktzeit und durch die kommunikative Qualität. Was ist gewonnen, wenn man „autonomes Lernen“ konstruktivistisch begründet, statt etwa motivationspsychologisch oder sprachpsychologisch? Was ist gewonnen, wenn man vom autonomen Lernen spricht statt wie eine ältere Didaktik vom Prinzip der Selbsttätigkeit? Dieses ewige Umbenennen, ohne dass gezeigt wird, was sich denn nun praktisch verändert, wenn es denn nun anders benannt werden soll, bringt uns nicht weiter.

Merke: Die Didaktik ist entweder konkret oder gar nicht. Theoretische Pendelschwünge ohne die Verpflichtung zur Konkretisation können die Lehrerschaft nur verunsichern und die Theoriefeindlichkeit der Praktiker verstärken. Schon Schopenhauer warnte vor „zu weit gefassten Begriffen“, das Denken sei stets „durch die Anschauung zu kontrollieren“. Reality checks!

Ich habe mich in vielen Publikationen an eine „empirische Hermeneutik“ gehalten (Das Wort stammt von Helmut Heuer, meinem hochgeschätzten Doktorvater). Immer wieder Belege, immer wieder Unterrichtsdokumente aus unterschiedlichen Schulformen. Man sieht es auf dem ersten Blick. Man braucht nur meine Bücher durchblättern (besonders: Klassengespräche. Kommunikativer Englischunterricht; Praxis und Theorie der bilingualen Methode), und man erkennt am Druckbild sofort die vielen Unterrichtszitate. Die Leser konnten nachvollziehen, worüber geredet wurde, und sich das Ihre dazu denken und eigene Schlussfolgerungen ziehen.

Ich hatte praktische Fragen, die aus meiner Unterrichtsarbeit kamen. Und aus meiner Beobachtung von Kindern und Erwachsenen in natürlichen Erwerbssituationen. Diese Blicköffnung brachte entscheidende Erkenntnisse.  Meines Wissens war ich einer der ersten, der die damals vorliegenden und noch überschaubaren Erkenntnisse zum natürlichen Zweitspracherwerb für das Verständnis des Fremdsprachenunterrichts systematisch ausgewertet hat (Psycholinguistik des Fremdsprachenunterrichts, 1989). „Der natürliche Zweitspracherwerb ist der Fremdsprachendidaktik ein Stachel im Fleisch, eine fortwährende Provokation: wieso ist er oft soviel wirkungsvoller als die organisierten Bemühungen der Schule?“ Später kam das Buch zum Mutterspracherwerb hinzu. Es war sonnenklar: Kein Schulkind würde eine Fremdsprache lernen, wenn es nicht schon Sprache hätte. Konnte man aus diesem Tatbestand auch unterrichtsmethodische Konsequenzen ableiten?

Ich probierte weiter aus, und noch heute erweitert sich mein Verständnis von Unterricht und Spracherwerb wesentlich durch genaues Hinhören und Ausprobieren.


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