Sprachen: Einheit in der Vielfalt oder die Muttersprache als Sprachmutter

 

 

In allen Sprachen liegt die eine Sprache der Menschheit, „die sich in den zahllosen des Erdbodens verschieden offenbart.“  (Humboldt) Es ist „die Gleichartigkeit der menschlichen Natur“ und Welterfahrung, die sich in allen Sprachen, wenn auch auf jeweils eigene Weise, spiegelt.   Deshalb können wir einander verstehen, durch die verschiedenen Sprachen hindurch und über die Verschiedenheiten hinweg. Humboldt  trennte entsprechend die Sprachkunde, die die Einheit betont, von der Sprachenkunde. Aber  die „Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues“ sind so auffällig, und die Mannigfaltigkeit tritt so deutlich hervor, dass wir die Einheit in der Vielfalt übersehen, die  im Menschen selbst und damit vor allen Sprachen und natürlich auch vor allen Kulturen  liegt.  „Durch die Mannigfaltigkeit der Sprachen wächst der Reichtum der Welt und die Mannigfaltigkeit dessen, was wir in ihr erkennen“ – ja; doch es gilt:
Vielfalt in der Einheit, Einheit in der Vielfalt.

Ein Beispiel: Völkerkundler erzählen unterhaltsam von den eigenartigen Riten, mit denen Menschen die Zukunft vorhersagen wollen. Aber über den absonderlichen Praxen vergessen wir den gemeinsamen Grund, das allgemeine Bedürfnis, in die Zukunft zu sehen, damit wir die richtigen Entscheidungen treffen. Es sind im Grunde alles Arten und Weisen, die Götter zu befragen. In ähnlicher Weise übersehen wir, dass die Sprachen unterschiedliche Ausprägungen derselben Grundformen unseres Denkens und Welterfassens darstellen.  Nehmen wir so etwas Fundamentales wie das Wunder der Wörter, die Tatsa­che, dass es Lautungen gibt, Klänge, rhythmische Erschütterungen der Luft, die an unser Ohr dringen und auf etwas verweisen. Das eben ist ja eine der großen Errungenschaften des menschlichen Geistes, dass etwas für etwas anderes stehen kann, zu dem es sonst überhaupt keine Beziehung hat. Es ist das Arbiträre, Unmotivierte, Unbegründete in der Tatsache, dass etwa ein Schall wie “rot” eine Farbe meint. Anders gewendet: Kinder sind wie alle Menschen jedweder Herkunft und Couleur  symboltüchtig, sie kennen intuitiv das Wunder der Zeichenver­wendung, das Wunder der Wörter. Ebenso kennen sie Grundmuster des Han­delns wie Essen, Sprechen, Laufen, Geben und Nehmen, basic event types. Sie wirken hinein in die kulturell verschiedenen Lebenswelten, drinnen und draußen. Bei uns zählen dazu Arzt, Bus, Tankstelle, Imbissbude, Wald und Wiese usw.

Intuitiv, und zunächst im Medium der Muttersprache,  haben wir nicht nur das Wunder der Wörter, sondern im Zusammenhang mit diesen basic event types auch das Wunder der Grammatik verstanden. Schon das vorsprachliche Kind weiß zwischen Personen und Sachen zu unterscheiden; der Unterschied wird dann von der Sprache ergriffen, ausgearbeitet und grammatisch relevant. Da kann man auch unterscheiden, wer etwas tut und wem etwas angetan wird, von wem, wo und womit. Bekannt sind uns auch schon Wechselwörter wie “du” und “ich”, die je nach Sprecher und Situation jemand anderes mei­nen, nicht dieselbe Person. Damit haben Kleinkinder noch zu kämpfen, die “ich” und “du”, “mein” und “dein” gern verwechseln.  Nun, sie mögen die Bezeichnungen verwechseln, nicht aber, was sie bezeichnen, ich und du und die Idee des Besitzens. Was könnte man von Schülern erwarten, die noch nicht über die Kategorien von “vor” und “nach” in Raum und Zeit verfügen? Wie könnten sie den progressiven Aspekt verstehen, wenn sie noch nicht den Begriff des Andauerns und Vor­übergehens entwickelt hätten? Ein Verständnis für komplexe Strukturberei­che wie Passiv- oder Relativsätze wird über mehrere Etappen erworben, die ein Schulkind schon hinter sich gebracht hat. Zunächst glauben nämlich die Kinder, dass die zuerst genannte Person immer auch die handelnde ist. Erst über seman­tisch irreversible Sätze wie “Das Mädchen wurde von einer Wespe gesto­chen” gelangen sie zu einem neuen Verständnis. Wie viel Relativsätze hat ein Kind schon gehört, mit dem man Bilderbücher ansieht: “Und wo ist der Mann, der …“?  Sie  haben auch schon gemerkt, dass bestimmte Sinn- und Sachverhalte weniger durch weitere Wörter, sondern durch kleine Veränderungen derselben und deren Gruppierung und Umgruppierung ausgedrückt werden.

Schulkinder haben anhand der Muttersprache einen grammatischen Grundvorrat ange­sammelt, auch wenn sie bis in die Schuljahre hinein noch dazulernen müs­sen. Zum Beispiel gibt es Schwierigkeiten mit Temporalsätzen, in denen die Ereignisse umgekehrt zur realen Ereignisfolge benannt werden. “Bevor wir essen gehen, müssen wir noch die Schularbeiten machen.” Weil hier das “essen gehen” zuerst genannt wird, meinen sie, es wäre auch zuerst dran.

Die grammatischen Vorleistungen der Muttersprache beschränken sich nun keineswegs, wie man meinen könnte, auf formal-funktionale Gemein­samkeiten, d.h. auf Fälle von Strukturgleichheit an der Oberfläche. Z.B.: Wir verstehen schnell, dass eine Sprache ein anderes Possessivum haben kann für einerseits ‘mein Kopf’ oder ‘mein Vater’ und andererseits ‘mein Löffel’ oder ‘mein Buch’. Wir können eben den Unterschied zwischen unveräußerlichem, nicht von mir trennbarem Besitz und einer anderen Besitzweise, einem auswechselbaren Besitz, nachvollziehen. So sind schon die Grundzüge der Temporalität, Kausalität,  Konditionalität,  Finalität und Konzessivität erworben, und zwar in dieser Reihenfolge. Wie beliebt sind etwa Wenn-Sätze bei Eltern! Grammatiken, die Bedingun­gen ausdrücken, ohne ein Wörtchen wie “wenn” zu haben, sind nachvoll­ziehbar, weil wir die zugrunde liegende Idee des “Wenn – dann” schon haben. Wir beherrschen auch schon die Logik des Kontrafaktischen: Wäre da nicht …, dann würde … Neu zu lernen sind nur die spezifischen fremdsprachlichen Ausprägun­gen.

Unser Menschenverstand bringt die eine Welt hervor, die uns zuerst und am gründlichsten im Medium der Muttersprache vertraut, verfügbar und mitteilbar wird. (Manchmal allerdings auch an einer ebenfalls natürlich gewachsenen Zweitsprache, die dominant wird und die Muttersprache gewissermaßen überholt).  Diese Naturwüchsigkeit, die enge Verflochtenheit mit all den unzähligen Fertigkeiten, Künsten, Anforderungen, Freuden und Sorgen des Alltags schafft eine innige, intime Vertrautheit und Leichtigkeit des Verstehens, die wir in die Fremdsprache hineintragen. Täten wir es nicht, wir kämen nicht weit. Alle Lerner tun es von selbst, sie können gar nicht anders.  Lehrer müssen diesen Prozess stützen, nutzen und kanalisieren, anstatt ihn zu ignorieren.  Hier gilt es, einen Jahrhundertirrtum zu korrigieren.

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